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Selenskyj warnt vor Katastrophe

Tag zwei der Münchner Sicherheitskonferenz startet im Zeichen des Kriegs in der Ukraine. Während Kanzler Scholz sich um Zuversicht bemüht, skizziert Präsident Selenskyj eine düstere Zukunftsaussicht.

Münchner Sicherheitskonferenz (MSC)
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine. Foto: Felix Hörhager/DPA
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.
Foto: Felix Hörhager/DPA

Knapp zwei Jahre nach Kriegsbeginn hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Zusammenhalt der internationalen Gemeinschaft gegen Russland und mehr Waffen mit großen Reichweiten gefordert. »Es gibt keine weitreichenden Waffen. Russland hat sie, wir haben sehr wenige davon. Das ist die ganze Wahrheit. Daher sind unsere Hauptwaffen gerade unsere Kämpfer«, sagte er in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. »Waffenpakete, Flugabwehrpakete, das ist gerade das, was wir erwarten.«

Selenskyj sprach unmittelbar nach Kanzler Olaf Scholz (SPD). Während dieser in seiner Rede um Zuversicht bemüht war und von einem »Silberstreifen« am Horizont sprach, warnte Selenskyj vor den Folgen des »künstlichen Waffendefizits« und der »Selbstschwächung«.

Selenskyj: Putin will nächsten Jahre zur Katastrophe machen

»2024 erwartet eine Reaktion von uns allen«, sagte Selenskyj laut offizieller Übersetzung. 724 Tage habe sich die Ukraine nun bereits gegen Russland gestellt. »Unser Widerstand hat die Zerstörung der regelbasierten Welt verhindert.« Je länger der Krieg aber dauere, desto größer sei die Gefahr einer Ausweitung und einer weiteren Beschädigung der internationalen Ordnung.

»Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es Putin gelingen, die nächsten Jahre zur Katastrophe zu machen«, sagte Selenskyj, der in seiner Rede auch vor Gefahren für andere europäische Länder warnte: »Wir müssen gemeinsam in einem Team agieren. Wenn die Ukraine alleine dasteht, dann werden Sie sehen, was passiert: Russland wird uns zerstören, das Baltikum zerstören, Polen zerstören - es ist dazu in der Lage.«

Neue Hilfen der USA für Ukraine »lebenswichtig«

Nach einem Treffen mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris am Rande der Konferenz rief Selenskyj das US-Repräsentantenhaus eindringlich zur Freigabe der seit Wochen blockierten Militärhilfen für die Ukraine auf: »Wir zählen sehr auf die positive Entscheidung des Kongresses. Für uns ist dieses Paket lebenswichtig.« Er denke aber nicht, »dass unser strategischer Partner es sich erlauben kann, die Ukraine nicht zu unterstützen«.

Der innenpolitische Streit in den USA verstärkt nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Munitionsmangel in der Ukraine. Details könne er nicht nennen, aber er könne sagen, dass es beispielsweise Rückgänge bei der Belieferung des Landes mit Standardmunition und bestimmten Typen von Luftverteidigungsgütern gegeben habe, sagte der Norweger am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz.

Scholz fordert Zusammenhalt der Nato und kontert Trump

Zuvor hatte Scholz in seiner Rede angesichts der russischen Bedrohung eindringlich davor gewarnt, den Willen zur gemeinsamen Verteidigung in der Nato aufzuweichen. »Lassen Sie mich auch klar sagen: Jegliche Relativierung der Beistandsgarantie der Nato nützt nur denen, die uns - so wie Putin - schwächen wollen«, sagte er.

Scholz reagierte wohl auf Aussagen von Donald Trump. Der aussichtsreiche republikanische US-Präsidentschaftsbewerber hatte erklärt, dass er Nato-Partner mit geringen Verteidigungsausgaben im Fall eines russischen Angriffs nicht unterstützen werde. Selenskyj betonte seinerseits, er habe Trump bereits in die Ukraine eingeladen.

An die Kritiker an den Verteidigungsausgaben in Deutschland gerichtet, erklärte Scholz: »Geld, das wir jetzt und in Zukunft für unsere Sicherheit ausgeben, fehlt uns an anderer Stelle. Das spüren wir. Ich sage aber auch: Ohne Sicherheit ist alles andere nichts.«

Scholz forderte daher auch die EU-Partner zu mehr Finanzhilfen für die Ukraine auf. Deutschland habe seine Militärhilfe auf mehr als sieben Milliarden Euro nahezu verdoppelt, Zusagen für weitere sechs Milliarden kämen hinzu. Er wünsche sich sehr, »dass ähnliche Entscheidungen in allen EU-Hauptstädten getroffen werden«. Die Europäer müssten sich stärker ihre Sicherheit kümmern - »jetzt und in Zukunft«.

Pistorius rechnet mit jahrzehntelanger Auseinandersetzung

Nach Einschätzung von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) müssen sich die westlichen Verbündeten auf eine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Russland einstellen. Eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur sei nicht gelungen.

»Nun werden wir für die kommenden Jahrzehnte bedauerlicherweise mit Trennlinien in Europa leben müssen: Das freie und demokratische Europa einerseits, das autoritäre und kriegstreiberische Russland andererseits«, sagte Pistorius und mahnte: »Effektive Abschreckung ist unsere Lebensversicherung.«

Scholz weicht auf Frage nach Taurus-Marschflugkörpern aus

Der Kanzler betonte, die deutsche Unterstützung für Kiew sei »breit und umfangreich, vor allem aber ist sie langfristig angelegt«. Der Frage, ob Deutschland vielleicht doch noch Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern wird, wich Scholz in einem Interview nach seiner Rede aber aus. Die Ukraine hatte die Raketen mit einer Reichweite von 500 Kilometern und einer hohen Treffsicherheit bereits im vergangenen Mai offiziell erbeten. Im Oktober erklärte Scholz, dass Deutschland sie vorerst nicht liefern würde. Dahinter steckt die Befürchtung, dass die Marschflugkörper russisches Territorium treffen könnten.

»Russland hat seine Armee seit vielen Jahren auf diesen Krieg vorbereitet und auf allen Ebenen neue, gefährliche Waffensysteme entwickelt. Die russische Volkswirtschaft arbeitet längst im Kriegsmodus«, sagte Scholz. Putin schicke immer mehr Soldaten an die Front. Alle müssten sich fragen, ob genug getan werde. »Wir müssen uns mehr denn je darum kümmern, dass unsere Abschreckung modernen Anforderungen gerecht wird.«

Rheinmetall plant hingegen den Bau eines neuen Werks zur Herstellung von Artilleriemunition in der Ukraine. Dafür habe das deutsche Rüstungsunternehmen und ein ukrainisches Partnerunternehmen am Rande der 60. Münchner Sicherheitskonferenz eine Absichtserklärung unterzeichnet, wie das Unternehmen mitteilte.

China als Moderator für den Frieden

Chinas Außenminister Wang Yi forderte auf der Konferenz erneut eine diplomatische Lösung des Ukraine-Kriegs. China arbeite daran, den Weg für Friedensgespräche zu bereiten, einen Teufelskreis zu verhindern und die Situation zu stabilisieren, sagte er laut Übersetzung. Es müssten die Sicherheitsinteressen beider Länder anerkannt werden. Wang Yi vermied es wieder, Russlands Angriff zu verurteilen.

© dpa-infocom, dpa:240217-99-21943/10