Massives Polizeiaufgebot, Straßensperren, streng abgeschottetes Kanzleramt: Die Sicherheitsvorkehrungen im Berliner Regierungsviertel werden so hoch sein wie nur selten zuvor, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz an diesem Wochenende einen der wichtigsten Besucher seit seinem Amtsantritt vor 17 Monaten empfängt.
Die Betonung liegt dabei aber auf dem Wörtchen »wenn«. Denn auch am Freitag ist noch nicht klar, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tatsächlich zum ersten Mal seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nach Deutschland kommt.
Seitdem die Berliner Polizei vor einer Woche über Details der Planungen für die Visite berichtet hat, wird heftig darüber spekuliert. Die Indiskretion hat den Besuch in Gefahr gebracht. Denn die Auslandsreisen Selenskyjs, von denen es inzwischen schon einige gegeben hat, werden aus Sicherheitsgründen in der Regel bis zur letzten Minute geheimgehalten.
Wie wahrscheinlich ist der Besuch?
Die Anzeichen dafür verdichteten sich am Freitag. Das Büro des italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella gab bekannt, dass Selenskyj am Samstag nach Rom kommt. Es wird erwartet, dass er dort auch von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Papst Franziskus empfangen wird. Eine hundertprozentige Garantie für den Besuch in Italien bedeutet die Ankündigung zwar noch nicht - einem Präsidenten, der sich im Krieg befindet, kann immer etwas dazwischen kommen. Wenn es bei der Italien-Reise bleibt, dürfte aber auch dem Deutschlandbesuch kaum noch etwas im Wege stehen.
Welche Anzeichen gibt es noch?
Die Berliner Polizei kündigte am späten Freitagnachmittag für die Zeit von 5 bis 18 Uhr am Sonntag umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen und Verkehrssperrungen an. »Besonders betroffen sind die Bereiche rund um das Regierungsviertel in Mitte. Auch das Befahren der Spree, unter anderem in Höhe des Bundeskanzleramtes, wird nicht mehr möglich sein«, hieß es in einer Mitteilung. Anwohner der betroffenen zwei Bereiche um Kanzleramt und Bundespräsidialamt sollen zur Legitimation etwa einen Ausweis dabei haben.
Welche Länder hat Selenskyj schon besucht?
Selenskyj hat sein Land in den ersten zehn Monaten nach der russischen Invasion gar nicht verlassen. Erst kurz vor Weihnachten flog er dann nach Washington, um dort US-Präsident Joe Biden zu treffen. Auf dem Rückweg machte er in Polen Halt und traf dort Staatschef Andrzej Duda. Es folgten Besuche in London, Paris, Brüssel, Warschau, Helsinki und Den Haag.
Wie reist Selenskyj?
Bei seinen vorherigen Auslandsreisen war er mit einem Sonderzug unterwegs, der dem ähnelt, mit dem Scholz vergangenen Juni zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi nach Kiew reiste: rustikaler Salonwagen, komfortables Schlafzimmer. Von Kiew ging es zunächst nach Südpolen, von wo Selenskyj dann in der Regel von Militärflugzeugen des Gastgeberlandes abgeholt wurde. Daraus wurde im Nachhinein dann auch kein Geheimnis mehr gemacht.
Was ist der Anlass für den möglichen Deutschland-Besuch?
Deutschland gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine - sowohl militärisch, als auch finanziell. Seit Kriegsbeginn genehmigte die Bundesregierung Waffenlieferungen für 2,75 Milliarden Euro - deutlich mehr als einige andere Länder wie zum Beispiel Frankreich, die Selenskyj bereits besucht hat. Das wäre eigentlich schon Anlass genug, nach Deutschland zu kommen. Es gibt aber auch noch einen konkreten Termin, zu dem Selenskyj eingeladen ist. Am Sonntagnachmittag werden er und das ukrainische Volk in Aachen mit dem Karlspreis für Verdienste um die Einheit Europas geehrt. Die Laudatio wird Kanzler Scholz halten - auch wenn Selenskyj nicht selbst dabei sein kann. Als weitere Redner sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki dabei.
Welche Erwartungen hat Selenskyj an ein Treffen mit Scholz?
»In taktischer Hinsicht geht es natürlich um Waffen, denn um den Krieg zu gewinnen, braucht man Waffen, Waffen und nochmals Waffen.« So hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kürzlich in einem »Bild«-Interview die Erwartungen seines Landes an Deutschland formuliert - auch mit Blick auf die erwartete ukrainische Gegenoffensive. Konkret nannte er Artilleriemunition, vor allem für große Entfernungen, gepanzerte Fahrzeuge und Flugabwehrsysteme. »All das ist in Deutschland vorhanden und Deutschland hat geliefert. Und Deutschland kann noch mehr liefern«, sagte Kuleba.
Ist Scholz bereit, mehr zu liefern?
Im Prinzip schon. Die Devise lautet: Die Ukraine wird unterstützt, solange dies nötig ist - auch militärisch. An eine neue Qualität von Waffen ist dabei aber nicht gedacht. Die Lieferung von Kampfjets westlicher Bauart hat Scholz bisher als nicht sinnvoll abgelehnt.
Wird es trotzdem um Kampfjets gehen?
Kann gut sein. Die Ukraine hofft auf die Lieferung amerikanischer F16-Kampfjets. Die hat die Bundeswehr zwar nicht zu bieten, weil sie stattdessen Tornados und Eurofighter fliegt. Trotzdem setzt Kiew darauf, dass Scholz dabei hilft, die USA von der Lieferung der Kampfjets zu überzeugen. »Was wir von Deutschland erwarten ist, eine aktive Rolle beim Aufbau einer Länderkoalition zu spielen: Wer wird die Vereinigten Staaten davon überzeugen, den grünen Knopf, zu drücken?«, sagte Kuleba. Deutschland könne hier eine Menge tun.
Was könnte Selenskyj noch thematisieren?
Den Wunsch der Ukraine, der Nato beizutreten. Selenskyj hofft darauf, dass die Nato bei ihrem Gipfel im Juli den Weg dafür ebnet. Für Deutschland und viele andere Nato-Partner steht das derzeit aber noch nicht auf der Tagesordnung.
Wie ist die Stimmung in der deutschen Bevölkerung?
In der deutschen Öffentlichkeit spielt der Krieg inzwischen eine weitaus geringere Rolle, als noch vor einigen Monaten. Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über eine Friedenslösung. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sind 55 Prozent für Gespräche mit dem Ziel der Beendigung des Krieges. Nur 28 Prozent sind dagegen. Die Ukraine schließt solche Verhandlungen dagegen derzeit kategorisch aus und fordert stattdessen zunächst einen vollständigen russischen Truppenabzug von ihrem Territorium - einschließlich der Halbinsel Krim.
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