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Selenskyj: Russlands Aggression bedroht auch andere Staaten

Noch immer wütet der Krieg in der Ukraine. Präsident Selenskyj wirbt für Unterstützung bei der UN-Generaldebatte - sein wichtigster Verbündeter macht klar: Wenn Kiew nicht sicher ist, ist es niemand.

Generaldebatte bei der UN-Vollversammlung
Wolodymyr Selenskyj spricht bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung. Foto: Michael Kappeler/DPA
Wolodymyr Selenskyj spricht bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung.
Foto: Michael Kappeler/DPA

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Russlands Krieg gegen sein Land vor der UN-Vollversammlung als Angriff auf die gesamte Welt dargestellt. »Es geht nicht nur um die Ukraine«, sagte der mit einem olivgrünen Polohemd im militärischen Stil bekleidete Staatschef bei der UN-Generaldebatte New York.

»Wenn Hass als Waffe gegen eine Nation eingesetzt wird, dann hört es nie damit auf«, mahnte er bei seinem ersten persönlichen Auftritt vor den Vereinten Nationen seit Kriegsbeginn. »In jedem Jahrzehnt zettelt Russland einen neuen Krieg an.« Teile von Moldau und Georgien seien besetzt, Russland habe sich Belarus fast einverleibt, bedrohe Kasachstan, die baltischen Staaten - und die internationale Ordnung.

Auch US-Präsident Joe Biden rief die Weltgemeinschaft angesichts zunehmender Kriegsmüdigkeit auf, der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland beizustehen - nicht zuletzt zum eigenen Schutz. »Die Welt muss der nackten Aggression heute entgegentreten, um andere potenzielle Aggressoren von morgen abzuschrecken.«

Selenskyj wurde mit lautem Applaus vom größten UN-Gremium begrüßt und sprach auf Englisch. »Viele Sitze in der Halle der Generalversammlung könnten leer werden, wenn Russland mit seinem Verrat und seiner Aggression Erfolg hat«, warnte er. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ließ sich im Saal von seinem Vize-Botschafter bei den Vereinten Nationen vertreten, der als politischer Hardliner gilt.

Selenskyj sagte an die Adresse der UN-Mitglieder, Moskau greife sein Land nicht nur militärisch an, sondern nutze auch andere Instrumente als Waffen. »Diese Dinge werden nicht nur gegen unser Land eingesetzt, sondern auch gegen Ihres.« Als Beispiel nannte er gestiegene Lebensmittelpreise wegen der russischen Blockade von Getreideexporten. »Die Auswirkungen erstrecken sich von der Atlantikküste Afrikas bis nach Südostasien.« Ebenso nutze Moskau Energie als Waffe, um Regierungen anderer Länder zu schwächen. Selenskyj rief zur gemeinsam Abwehr der Gefahr durch Russland auf: »Wir müssen das stoppen.«

Biden: Niemand ist sicher, wenn die Ukraine nicht sicher ist

Biden beschwor den Zusammenhalt der 193 UN-Mitgliedsländer. »Wenn wir zulassen, dass die Ukraine zerstückelt wird, ist dann die Unabhängigkeit irgendeiner Nation sicher? Die Antwort ist Nein.« In der Nacht zum Mittwoch (MESZ) stand auch eine Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in der Generalversammlung auf dem Programm.

Das größte diplomatische Treffen der Welt fällt in eine Zeit, in der der Ukraine-Krieg schon seit mehr als eineinhalb Jahren andauert. In manchen Teilen der Welt setzt allmählich Ermüdung ein, was die Unterstützung für Kiew angeht.

Biden warnte davor, sich dem hinzugeben. »Russland glaubt, dass die Welt müde wird und es ihm erlaubt, die Ukraine ohne Konsequenzen brutal zu behandeln.« Wenn internationale Grundprinzipien aber aufgegeben würden, »um einen Aggressor zu beschwichtigen, kann sich dann irgendein Mitgliedstaat sicher fühlen, dass er geschützt ist?« Auch der polnische Präsident Andrzej Duda warnte mit Blick auf den Krieg im Nachbarland: »Heute ist die Ukraine das Opfer. Morgen könnte es jeder von uns sein.«

Selenskyjs Chance in New York

Selenskyj sagte in seiner Rede weiter, sein Land habe Beweise, dass Hunderttausende Kinder von Russland aus den besetzten Gebieten der Ukraine verschleppt worden seien. Im Hinblick auf die nukleare Bedrohung durch Moskau sagte er: »Terroristen haben kein Recht, Atomwaffen zu besitzen.«

Im vergangenen Jahr hatte sich Selenskyj noch per Videoansprache an die Vereinten Nationen gewandt. Diesmal besuchte er direkt nach seiner Ankunft am Montag mitsamt Ehefrau Olena Selenska ein Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Staten Island, in dem verwundete ukrainische Soldaten behandelt werden.

Selenskyj hatte zuletzt bereits an Gipfeln der G7, Nato und EU teilgenommen. Die UN-Vollversammlung aber bietet die größte Bühne und eine Chance für den Ukrainer, skeptische Länder zu überzeugen.

Der Ukrainer traf deswegen auch die einflussreichen Präsidenten William Ruto aus Kenia und Cyril Ramaphosa aus Südafrika zu privaten Gesprächen. Ramaphosa war im Juli auf Einladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem Afrika-Gipfel in St. Petersburg eingeladen gewesen.

Scholz wollte sich am Mittwoch mit Selenskyj treffen. Dabei könnte der Ukrainer erneut auf eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern dringen.

Die Sorgen der anderen

Viele Staaten vor allem in Lateinamerika, Afrika und Asien wünschen sich größeres Augenmerk auf ihre Probleme und auf das eigentlich für die UN-Woche angepeilte Hauptthema: neue Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Viele der Staats- und Regierungschefs des sogenannten Globalen Südens wünschen sich Frieden in der Ukraine. Dies zeigt sich prominent in den Vermittlungsversuchen des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. In seiner Rede, die vor allem von den Sorgen der Auswirkungen des Klimawandels geprägt war, pochte Lula auf Friedensgespräche für die Ukraine. Zuletzt hatte er in einem Interview gesagt, der Krieg in der Ukraine ermüde die Menschheit.

Showdown mit Russland im Sicherheitsrat?

Selenskyj und der Ukraine-Krieg werden auch in den nächsten Tagen das diplomatische Treffen in New York dominieren. Am Mittwoch soll das mächtigste UN-Gremium tagen, der 15-köpfige Sicherheitsrat. Dort könnte der ukrainische Präsident erstmals seit dem Einmarsch Russlands auf Lawrow treffen. Selenskyj muss auch dort angesichts des Kriegsverdrusses erklären, warum er Gespräche mit Russland momentan ablehnt. Von New York aus will Selenskyj nach Washington weiterreisen, wo er am Donnerstag Termine hat.

Zur Eröffnung der Generaldebatte hatte UN-Generalsekretär António Guterres vor einer Spaltung der Welt in verschiedene Lager gewarnt. Es gebe tiefe Gräben zwischen den größten Wirtschafts- und Militärmächten, zwischen Ost und West sowie zwischen reichen Staaten und Entwicklungsländern. »Unsere Welt gerät aus den Fugen.«

© dpa-infocom, dpa:230918-99-243220/10