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Selenskyj: Kriegsausgang bestimmt Welt der Enkelkinder

Die erste Auslandsreise seit Russlands Einmarsch führt den ukrainischen Präsidenten zum wichtigsten Verbündeten. Er dankt den USA - und fordert Panzer und Jets.

Selenskyj in Washington
Selenskyj überreichte dem Kongress eine ukrainische Flagge, die von den Frontsoldaten in Bachmut signiert wurde. Foto: Carolyn Kaster
Selenskyj überreichte dem Kongress eine ukrainische Flagge, die von den Frontsoldaten in Bachmut signiert wurde.
Foto: Carolyn Kaster

Es ist nicht weniger als ein Heldenempfang im US-Kongress - für das Oberhaupt eines anderen Landes. Zwei Minuten und 19 Sekunden feiern Abgeordnete beider Parlamentskammern den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gestern Abend (Ortszeit) mit Applaus vor einer Rede, die Geschichte schreiben dürfte. Es geht um Widerstand, Freiheit und den militärischen Sieg über Russland.

»Trotz aller Widrigkeiten und Untergangsszenarien ist die Ukraine nicht gefallen«, ruft Selenskyj den Abgeordneten bei seiner ersten Auslandsreise in Kriegszeiten unter immer wieder aufbrandendem Jubel entgegen. »Die russische Tyrannei hat die Kontrolle über uns verloren«. Auch heute tritt er - ganz Kriegspräsident - in einem olivgrünen Militärpullover mit dem Emblem des Oberbefehlshabers auf. Er macht klar, dass er mehr Waffen braucht, während sich eine neue Phase im bald einjährigen Ukraine-Krieg abzeichnet.

Er hob auch die historische Bedeutung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hervor. Es gehe nicht nur um die Freiheit und Sicherheit der Ukrainer oder jeder anderen Nation, die Russland versuche, zu erobern, sagte Selenskyj. »Der Kampf wird definieren, in welcher Welt, unsere Kinder und Enkelkinder leben werden, und dann ihre Kinder und Enkelkinder«, warnte er.

Seit Selenskyjs letztem Besuch in Washington sind keine anderthalb Jahre vergangen - aber für den ukrainischen Präsidenten dürfte es sich wie ein halbes Leben anfühlen. Im Sommer 2021 war er zuletzt hier, damals noch schick im Anzug. Es ging bei dem Treffen mit US-Präsident Joe Biden auch um die Furcht vor einem russischen Angriff. Die Befürchtungen von damals haben sich bewahrheitet.

Ukrainische Offensive erwartet

Der jüngste Besuch Selenskyjs bei seinem wichtigsten Unterstützer kurz vor Weihnachten kommt zu einer entscheidenden Zeit. Mit der Aufrüstung beider Seiten könnte es im bald einjährigen Krieg für die ukrainischen Streitkräfte schwieriger werden, im Osten ihres Landes weiter gegen die russischen Soldaten vorzurücken. Diplomaten sagten zuletzt aber, sie erwarteten eine ukrainische Offensive im Winter.

Selenskyj, der kürzlich vom »Time«-Magazin zur »Person of the Year« gewählt wurde, steht dabei symbolisch für den Kampf der Ukrainer um ihre Freiheit. In den vergangenen zehn Monaten schafften die Streitkräfte es, die zuvor übermächtig erscheinende russische Armee nach ihrem Einmarsch zunächst bei Kiew und dann im Osten des Landes zurückzuschlagen. Ohne die Amerikaner aber, das betont Selenskyj im Weißen Haus neben Präsident Biden, wäre dies unmöglich gewesen.

Selenskyj bittet nicht um Almosen

Doch vor dem Kongress macht Selenskyj klar, dass es sich bei den knapp 22 Milliarden Dollar an US-Militärhilfe nicht um Almosen handle. Kiew sei das Bollwerk gegen Russland - es sei nur eine Frage der Zeit bis Russland auch Verbündete der USA angreife, warnte der Ukrainer. Waffen, Training und Geheimdienstinformationen stärkten Selenskyjs Kämpfer auf allen Ebenen. Sie sind weiter angewiesen auf die US-Hilfe. Vor allem deshalb ist der ukrainische Präsident erstmals seit Kriegsbeginn ins Ausland geflogen.

Selenskyj wird das Zitat zugeschrieben, er »brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit«. Das war zu Beginn des Krieges, als die USA ihn aus Kiew in Sicherheit bringen wollten, der 44-Jährige sich aber weigerte und den Widerstand antrieb. Zehn Monate später wird er dafür auch in den USA als Held gefeiert - und für die Visite in Washington nahm er dann tatsächlich eine US-Regierungsmaschine.

Appell an die Republikaner

Im Licht der veränderten Machtverhältnisse nach den Zwischenwahlen ist seine Rede vor den Abgeordneten besonders wichtig. Dort werden die Republikaner bald mehr Macht haben - auch ihre Unterstützung braucht der ehemalige Schauspieler in den kommenden Monaten und vielleicht Jahren. Bei der Rede gestern Abend, in der Selenskyj das Schicksal der Ukrainer historisch immer wieder mit dem der Amerikaner vergleicht, scheinen die Ränge der Republikaner dabei etwas leerer als die der Demokraten.

Von seinem Washington-Besuch aber wird Selenskyj mit großen amerikanischen Zusagen zurückkommen: Die USA wollen als Teil eines neuen Militärhilfe-Pakets in Höhe von 1,85 Milliarden US-Dollar Patriot-Luftabwehrsysteme in die Ukraine schicken. Das könnte auch den Druck auf Staaten wie Deutschland erhöhen, bei den Waffenlieferungen aufzustocken.

Biden als felsenfester Verbündeter

Zudem gibt sich Biden, der Selenskyj zur Begrüßung noch väterlich die Schulter getätschelt hatte, als felsenfester Verbündeter ohne Vorbedingungen: »Sie werden niemals alleine dastehen«, sicherte er zu. »Das amerikanische Volk hat Sie bei jedem Schritt begleitet, und wir werden an Ihrer Seite bleiben, so lange es nötig ist.«

Aus russischer Sicht verschärft sich die Lage im Krieg durch die Lieferung der Patriots an die Ukraine deutlich. Schon lange sieht Kremlchef Wladimir Putin seine Invasion in die Ukraine auch als einen Krieg mit dem Westen und die Waffensysteme der Nato-Staaten. Der »kollektive Westen« habe es auf eine Vernichtung Russlands abgesehen und nutze die Ukraine als Instrument, behauptete er mehrfach.

Putin will um jeden Preis gewinnen

Wegen der Patriot-Lieferung befürchtet Moskau, dass die Angriffe von ukrainischer Seite auf russisches Staatsgebiet durch diese Waffen mit höherer Reichweite noch einmal zunehmen. Russland hatte den USA zuletzt wiederholt vorgeworfen, inzwischen selbst Kriegspartei zu sein. Auch die Patriots würden deshalb nun zu »legitimen« Zielen für die russischen Streitkräfte.

Putin hatte nur kurz vor Selenkyjs Auftritten in Washington bei einer großen Sitzung im Verteidigungsministerium gestern mit Nachdruck erklärt, dass er den Krieg um jeden Preis gewinnen will. Dazu soll die Armee besser ausgestattet und die Zahl der Soldaten erhöht werden. Dafür gebe es keine finanziellen Grenzen, betonte er. Moskau und Kiew wollen kurz vor dem Jahreswechsel noch einmal Stärke zeigen und setzen dabei auf große Bühnen.

Derzeit kein Frieden in Sicht

Vor allem aber nutzte Putin die Versammlung, um einmal mehr auf die Nuklearwaffen der Atommacht hinzuweisen. So sollten etwa bald die neuen, mit mehreren Atomsprengköpfen bestückbaren Interkontinentalraketen vom Typ Sarmat in Dienst gestellt werden, sagte der 70-Jährige. Die annektierten ukrainischen Gebiete werde Russland unter allen Umständen »verteidigen«.

Auf Frieden stehen die Zeichen in Washington und Moskau definitiv nicht - auch wenn Selenskyj einen globalen Gipfel in Aussicht stellt. Er betont aber, es werde »keine Kompromisse« auf dem Weg zum Frieden geben, wie brutal die russischen Angriffe auch werden sollten. »Wir werden Weihnachten feiern«, schließt er seine Rede vor dem Kongress, »auch wenn es keinen Strom gibt. Das Licht unseres Glaubens an uns selbst wird nicht erlöschen.«

© dpa-infocom, dpa:221221-99-986256/12