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Selenskyj-Ausnahmezustand bei den UN

Im Februar 2022 marschierte Russland - während einer historischen Sitzung des UN-Sicherheitsrates - in die Ukraine ein. Heute könnte Präsident Selenskyj dort dem Aggressor entgegentreten.

Wolodymyr Selenskyj
Der UN-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist angesichts des andauernden Krieges wichtig. Foto: Seth Wenig/DPA
Der UN-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist angesichts des andauernden Krieges wichtig.
Foto: Seth Wenig/DPA

Das UN-Hauptquartier in New York hat in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich alles gesehen: Es wurde Frieden geschlossen und Krieg geschürt. Präsidenten und Könige, Papst Franziskus oder Nelson Mandela - alle waren sie hier.

Doch der Ausnahmezustand, in den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zentrale der Vereinten Nationen dieser Tage versetzt, fühlt sich anders an. Eng umringt von amerikanischen und ukrainischen Personenschützern, einige von ihnen wie er in militärischer Kleidung, bringt Selenskyj die Aura des Kriegs in seinem Land zur UN-Generaldebatte. Heute könnte er dem Aggressor erstmals im berühmten Sicherheitsrat gegenübertreten.

Der UN-Besuch ist bedeutsam

Der Aufwand, den die amerikanischen Sicherheitsdienste um Selenskyjs Besuch machen, kommt dem für den US-Präsidenten gleich. Schon vor Wochen begann die komplizierte Vorbereitung. Die UN-Zentrale gehört offiziell nicht zum amerikanischen Staatsgebiet und hat einen eigenen Sicherheitsdienst - Diplomaten, Journalisten und Lobbyisten aus Dutzenden Ländern laufen hier rum. Und es gilt als offenes Geheimnis, dass der ein oder andere Russe im Haus die Moskauer Geheimdienste nicht nur aus dem Fernsehen kennt. Aus diesem Grund ist Selenskyj selbst hier einem Risiko ausgesetzt - 7500 Kilometer und einen Ozean entfernt von Kiew, hinter einem hohen Zaun und mehreren Sicherheitskontrollen.

Doch der UN-Besuch angesichts des immer länger andauernden Krieges ist wichtig: Selenskyj ist hier, um sich die Unterstützung auch der Länder zu sichern, die davon genervt sind, dass ihre Probleme zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. In seiner Rede vor der Vollversammlung ist Selenskyjs Botschaft an die Skeptiker ebenso leidenschaftlich wie direkt: Wenn die Ukraine fällt, könntet Ihr die Nächsten sein.

Der 45-Jährige ist zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu den Vereinten Nationen gereist. Zu der Weltorganisation, die eigentlich den Frieden wahren soll und es in der Ukraine doch nicht konnte. Ende Februar 2022 fand hier, im Saal des Sicherheitsrates, eine der dramatischsten Sitzungen der jüngeren UN-Geschichte statt: Die Situation hatte sich über Wochen angebahnt. Und jetzt sah es so aus, als ob der Befehl von Russlands Präsidenten Wladimir Putin zum Einmarsch bevorstehe.

Russischer Außenminister Lawrow erwartet

Bei einer eiligst anberaumten Dringlichkeitssitzung war die Spannung spürbar. Eine Botschafterin am Tisch erzählte später, sie habe gefühlt, dass sie gerade Weltgeschichte miterlebe. Der sonst so nüchtern wirkende UN-Generalsekretär António Guterres richtete seinen Blick in die Kamera: »Präsident Putin, halten Sie Ihre Truppen davon ab, die Ukraine anzugreifen, geben Sie dem Frieden eine Chance«. Es dauerte nur 30 Minuten, bis ein Mitarbeiter noch während der Sitzung in sein Ohr flüsterte, der Mann im Kreml habe den Befehl zum Einmarsch erteilt.

In eben diesen Saal soll Selenskyj heute (17 Uhr MESZ) treten. Vor dem riesigen »Wandbild des Friedens« wird er an dem runden Tisch Platz nehmen. Erwartet wird in Abwesenheit von Putin auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia spricht vom bedeutsamsten Treffen des mächtigsten UN-Gremiums. Auch wenn US-Präsident Joe Biden wohl nur seinen Außenminister Antony Blinken schicken wird.

Der Sicherheitsrat besteht aus 15 Ländern, fünf Vetomächten und zehn nicht-ständigen Mitgliedern - zudem können auf Anfrage auch andere Länder sprechen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur will der Rat Selenskyj heute erlauben, schon zu Beginn der Sitzung das Wort zu ergreifen. Das könnten die Mitglieder mit 9 der 15 Stimmen durchsetzen, selbst wenn Russland sich dagegen stemmt - bei sogenannten prozeduralen Abstimmung gilt das Veto nicht.

Doch auch Lawrow, jahrelang selbst UN-Botschafter, kennt die Kniffe im Sicherheitsrat. Im vergangenen Jahr betrat er den Saal nur genau 23 Minuten lang für seine Ansprache und ignorierte den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba. Ein wilder Schlagabtausch Selenskyjs mit Lawrow erwarten die wenigsten. Doch im UN-Hauptquartier passieren die historischen Momente gern ohne Ankündigung.

© dpa-infocom, dpa:230920-99-258492/2