Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will trotz eindringlicher Bitten der Ukraine vorerst keine Taurus-Marschflugkörper in das Kriegsgebiet liefern. Stattdessen will Deutschland die ukrainischen Streitkräfte weiter vor allem mit Luftabwehrsystemen in ihrem Kampf gegen die russischen Angreifer unterstützen. Das wurde der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag in Koalitionskreisen bestätigt. Eine formelle Entscheidung gibt es dazu aber weiterhin nicht. Damit lässt sich Scholz die Option einer Lieferung zu einem späteren Zeitpunkt offen.
Marschflugkörper aus London und Paris
Großbritannien und Frankreich haben der Ukraine bereits Marschflugkörper der praktisch identischen Typen Storm Shadow und Scalp geliefert. Ende Mai fragte die Ukraine offiziell auch bei der Bundesregierung an, ob sie ihre Taurus mit einer Reichweite von 500 Kilometern bereitstellen kann. Das ukrainische Militär benötigt die Raketen, um russische Stellungen weit hinter der Frontlinie angreifen zu können.
Scholz stand einer Lieferung von Anfang an skeptisch gegenüber. Dahinter steckt die Befürchtung, dass wegen der großen Reichweite mit den Raketen auch russisches Territorium angegriffen werden könnte - auch wenn Kiew stets versichert hat, dies nicht zu tun. Trotzdem sah es im Sommer zwischenzeitlich so aus, als könnte sich die Bundesregierung dafür entscheiden. FDP und Grüne machten Druck. Man fühlte sich an die Entscheidung über die Leopard-2-Panzer erinnert, bei der Scholz lange zögerte und dann doch grünes Licht gab.
Auch USA haben bisher nicht geliefert
Aber auch die USA haben sich bisher nicht zu einer Lieferung ihrer Raketen vom Typ ATACMS mit einer Reichweite von 300 Kilometern durchdringen können - auch wenn es immer wieder entsprechende Medienberichte gab. Das dürfte Scholz in seiner skeptischen Haltung bestärkt haben. Bei allen qualitativ neuen Schritten bei der militärischen Unterstützung der Ukraine hat er sich bisher daran orientiert, was die USA tun.
Schon beim letzten Treffen des Kanzlers mit Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande der UN-Vollversammlung in New York Mitte September zeichnete sich ab, dass es zunächst nicht zu einer Taurus-Lieferung kommen wird. Selenskyj habe sich für die deutsche Militärhilfe bedankt, insbesondere für die Artillerie und Luftverteidigung, hieß es in der deutschen Mitteilung nach dem Treffen. Von den Marschflugkörpern war keine Rede. Seit dem Gespräch hat Selenskyj seine Forderung danach auch nicht mehr erneuert.
Entsendung von Personal gilt als rote Linie
Am Mittwoch berichtete zuerst die »Bild«, dass die Ukraine die Taurus vorerst nicht erhalten werde. Das sei Kiew von deutscher Seite deutlich gemacht worden. Seine Gründe deutete Scholz vergangene Woche in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses an. Zur Steuerung der Raketen sagte er nach dpa-Informationen, dass Großbritannien und Frankreich dabei Möglichkeiten hätten, die Deutschland nicht zur Verfügung stehen. Gemeint ist, dass beide Länder Geodaten für Raketenziele selbst liefern - Großbritannien soll dafür eigenes Personal in der Ukraine geschickt haben.
Zudem sollen deutsche Regierungsvertreter dem »Bild«-Bericht zufolge die Sorge geäußert haben, dass mit Taurus-Marschflugkörpern die Kertsch-Brücke zwischen dem russischen Festland und der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim getroffen werden könnte. Die liegt genau zwischen russischem und ukrainischem Territorium, das 2014 von Russland annektiert wurde.
Vor allem die Entsendung eigenen Personals in die Ukraine kommt für die Bundesregierung nicht in Frage. Damit würde man sich in eine völkerrechtliche Grauzone zu einer Kriegsbeteiligung begeben. Mal ganz abgesehen davon, dass dafür auch die Zustimmung des Bundestags notwendig wäre.
Offizielles Nein würde Russland in die Hände spielen
Ein offizielles Nein zu den Taurus-Lieferung gibt es aber weiter nicht. Eine Regierungssprecherin erklärte am Mittwochabend nur: »Zur Frage von Taurus-Marschflugkörpern gibt es keinen neuen Sachstand mitzuteilen.«
Die zurückhaltende Kommunikation liegt woghl auch daran, dass eine formelle Entscheidung Russlands Präsident Wladimir Putin in die Hände spielen würde. Er könnte sie als Bröckeln der westlichen Unterstützung der Ukraine werten. Eine abschließende negative Entscheidung zu Taurus wird also möglicherweise nie verkündet werden.
Verärgerung bei den Koalitionspartnern
Die Diskussion über die Marschflugkörper ist jedenfalls längst nicht vorbei. Aus den Reihen der Koalitionspartner Grüne und FDP wurde Scholz am Donnerstag scharf kritisiert. Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter sprach von einem »verheerenden Signal« an Moskau. Mangelnde Entschlossenheit und zähe Diskussionen über Waffensysteme bestärkten Russland nur in der Ansicht, den Krieg auf lange Sicht gewinnen zu können, sagte er im Deutschlandfunk. »Solange wir dieses Signal immer wieder aus Ängstlichkeit, aus Überforderung, aus nicht schnell genug entscheiden können entsenden, solange wird dieser Krieg weitergehen.« Er erwarte von Scholz, »dass er endlich den Weg freimacht für die vernünftige Unterstützung der Ukraine.«
Der FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber sprach von einer »Verweigerungshaltung« des Kanzlers. »Die Bedienung kann natürlich von den Ukrainern selbst übernommen werden. Nach fünf Monaten hätte man erwarten können, dass auch das Kanzleramt ausreichenden fachlichen Sachverstand bezüglich des Taurus erlangt hat«, sagte er.
Auch die Union bekräftigte ihre Forderung nach der Taurus-Lieferung: »Mit der Absage der Taurus-Lieferung bestätigt Scholz den Totalausfall Deutschlands als selbst ernannte Führungsnation für europäische Sicherheit und stößt unsere Partner wie Großbritannien und Frankreich vor den Kopf, die bereits Marschflugkörper liefern«, sagte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter der »Bild«.
SPD-Generalsekretär: Sollten Scholz vertrauen
Aus der Kanzler-Partei SPD kommt dagegen Zustimmung. »Wir alle sollten ihm weiter vertrauen, dass er die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit trifft - auch bei der Frage der Taurus-Flugkörper«, sagte Generalsekretär Kevin Kühnert bei Welt TV.
Scholz reiste am Donnerstag erstmal nach Granada in Südspanien zum Europa-Gipfel. Kurz vor ihm landete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dort. Für den Nachmittag war ein Gespräch der beiden angesetzt - sicher auch wieder über Waffenlieferungen.
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