Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben sich erstmals dafür stark gemacht, dass die Ukraine Beitrittskandidat für die Europäischen Union wird.
Scholz sagte bei seinem lang erwarteten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew: »Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.« Er ergänzte: »Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau.« Konkrete Zusagen für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine machte der Bundeskanzler nicht.
Neben Macron begleiteten Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Iohannis den Kanzler bei diesem Solidaritätsbesuch. Scholz, Macron und Draghi waren gemeinsam nachts mit dem Zug angereist. Iohannis hatte eine andere Route gewählt.
»Hier hilft uns Deutschland sehr«
Angesichts umfangreicher Forderungen nach Lieferung schwerer Waffen sagte Scholz: »Wir unterstützen die Ukraine auch mit der Lieferung von Waffen, und wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstützung benötigt.« Der Kanzler hob den Widerstand des Landes gegen Russland hervor: »Die Ukraine befindet sich seit 113 Tagen in einem heldenhaften Abwehrkampf gegen Russland. Die Tapferkeit der Soldatinnen und Soldaten ist groß. Es ist bewundernswert, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer sich gegen die Invasion Russlands zur Wehr setzen.«
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würdigte den Besuch von Scholz. Es würden Waffen geliefert, auch die gewünschten. »Hier hilft uns Deutschland sehr«, sagte er. »Ja, ich bin überzeugt, dass das ganze deutsche Volk die Ukraine unterstützt.« Macron kündigte die Lieferung weiterer Caesar-Haubitzen für die Ukraine an.
Scholz: Beitrittsstatus ein Meilenstein
Scholz nannte den Status eines EU-Beitrittskandidaten einen Meilenstein auf dem »voraussetzungsreichen europäischen Weg« der Ukraine. Beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni werde er sich für eine einheitliche Haltung stark machen - für die Entscheidung ist Einstimmigkeit notwendig. Macron sagte: »Auf jeden Fall unterstützen wir den Beitrittsstatus der Ukraine zur Europäischen Union.«
Scholz stellte die Ukraine auf einen länger währenden Prozess bis zu einem EU-Beitritt ein. Der Status eines Beitrittskandidaten bedeute, dass die Hoffnung auf dem Weg nach Europa für die Menschen der Ukraine konkret werde, sagte der SPD-Politiker im ZDF-»heute journal«. »Und das ist kein einfacher, sondern ein sehr voraussetzungsvoller Weg, der auch sehr lange Zeit in Anspruch nehmen kann«, machte Scholz deutlich. Das wisse auch jeder in der Ukraine. Zum Zeithorizont sagte Scholz, das könne niemand seriös beantworten. »Aber es lohnt sich, das ist doch die Botschaft.«
Der Kanzler nannte im ZDF und in der ARD etwa Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt seien. »Hier geht es um Hoffnung«, sagte Scholz in einem ARD-»Brennpunkt«. »Europa ist eine gute Idee«, fügte er hinzu.Selenskyj: EU-Kandidatenstatus historische Entscheidung
»Historische Entscheidung für Europa«
Am 113. Tag des Krieges begrüßte Selenskyj das Bekenntnis seiner Gäste: »Der EU-Kandidatenstatus könnte eine historische Entscheidung für Europa sein.« Die Ukraine hatte kurz nach dem Angriff Russlands am 24. Februar einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt.
Macrons klare Aussage zum EU-Kandidatenstatus ist umso bedeutender, da Frankreich derzeit die wechselnde EU-Präsidentschaft inne hat. Draghi sagte bei der gemeinsamen Pressekonferenz: »Präsident Selenskyj hat verstanden, dass der Kandidatenstatus ein Weg ist und noch nicht das Ziel. Ein Weg, auf dem tiefgreifende Reformen notwendig sind in der ukrainischen Gesellschaft.«
Es wird erwartet, das die EU-Kommission in Brüssel am Freitag den Vorschlag machen wird, der Ukraine eine klare Beitrittsperspektive zu geben. Beitrittsverhandlungen sind kompliziert und dauern in der Regel Jahre.
Kanzler: Versprechen gegenüber Westbalkan einlösen
Scholz sprach sich dafür aus, auch die Westbalkanstaaten näher an die EU heranzuführen. »Es ist eine Frage der europäischen Glaubwürdigkeit, dass wir gegenüber den Staaten des westlichen Balkan, die sich seit Jahren schon auf diesem Weg befinden, nun endlich unser Versprechen einlösen, jetzt und konkret«, sagte er. Die EU müsse sich auf diese Entwicklung vorbereiten und ihre Strukturen und Verfahren modernisieren.
Draghi regte ein Umdenken bei den Verhandlungen vor allem mit den Staaten des Balkans an: »Wir wissen alle, dass das eine historische Entwicklung ist für Europa, die tiefgreifende Überlegungen verlangt.«
Kurz nach der Ankunft des Quartetts wurde in der ukrainischen Hauptstadt Luftalarm ausgelöst, der nach gut 30 Minuten wieder aufgehoben wurde. Am Nachmittag beim Treffen mit Selenskyj heulten die Sirenen erneut.
Scholz in Irpin
Nach seiner Ankunft besuchte Scholz den teils zerstörten Kiewer Vorort Irpin. Ähnlich wie im benachbarten Butscha waren dort nach dem Rückzug der Russen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden worden. Scholz verurteilte die »Brutalität« des russischen Angriffskrieg und sprach von sinnloser Gewalt.
Iohannis verlangte erneut, dass Gräueltaten Russlands vor ein internationales Strafgericht gebracht werden. Draghi traut der Ukraine einen umfassenden Wiederaufbau zu. »Das hier ist ein Ort der Zerstörung, aber auch der Hoffnung«, sagte Draghi in Irpin.
In einer ersten Reaktion versuchte Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew den Besuch kleinzureden. Die Politiker müssten mit dem Zug reisen wie vor 100 Jahren und stellten der Ukraine eine EU-Mitgliedschaft und »alte Haubitzen« in Aussicht, meinte Medwedew, der stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates ist. »Das ist alles gut. Aber es wird die Ukraine nicht näher in Richtung Frieden bringen.«
Russland reduziert Gaslieferungen weiter
Parallel zum Besuch von Scholz in Kiew reduzierte der russische Energieriese Gazprom wie angekündigt in der Nacht zum Donnerstag seine Gaslieferungen nach Deutschland durch die Ostseepipeline Nord Stream weiter. Russland schloss auch ein komplettes Runterfahren der wichtigsten Versorgungsleitung für Deutschland nicht aus. Gazprom hatte die Reduzierungen mit Verzögerungen bei Reparaturarbeiten begründet. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vermutet dahinter hingegen eine politische Entscheidung.
Seit Mitte März sind zahlreiche Staats- und Regierungschefs in die Ukraine gereist. Der Besuch von Scholz, Macron und Draghi war allerdings besonders bedeutend: Sie repräsentieren die drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten EU-Länder. Die drei Staaten gehören zur G7, in der sich demokratische Wirtschaftsmächte zusammengeschlossen haben. Deutschland hat in dieser Gruppe derzeit den Vorsitz. Selenskyj hatte Scholz schon vor Wochen nach Kiew eingeladen. Zuerst standen aber Verstimmungen wegen der kurzfristigen Absage einer Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von ukrainischer Seite im Weg.
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