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Sanitätsexperten plädieren für Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Sanitätsoffiziere der Bundeswehr beobachten die Entwicklungen im Ukraine-Krieg systematisch - und haben bemerkenswerte Erkenntnisse gewonnen.

Sanitätsdienst der Bundeswehr
Ein Sanitätspanzer vom Typ Boxer des deutschen Einsatzkontingents der Nato-Einsatzgruppe »Enhanced Forward Presence« (eFP). Foto: Michael Kappeler/DPA
Ein Sanitätspanzer vom Typ Boxer des deutschen Einsatzkontingents der Nato-Einsatzgruppe »Enhanced Forward Presence« (eFP).
Foto: Michael Kappeler/DPA

Zerschossene Rettungswagen und ein Wettlauf gegen die Zeit unter »Feinddruck«: Sanitätsexperten der Bundeswehr plädieren für weitreichende Schlüsse aus einer systematischen Analyse des bisherigen Kriegsverlaufs in der Ukraine. Es müssten mehr gepanzerte und auch größere Rettungsfahrzeuge bis hin zu Lazarettzügen beschafft, die Voraussetzungen für eine Erstversorgung bereits auf dem Gefechtsfeld verbessert und die Zusammenarbeit mit zivilen Gesundheitsdiensten in Deutschland ausgebaut werden. Das wird in einer Untersuchung deutlich, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Darin heißt es auch, nunmehr müssten »die geforderten Bedarfe dringend und ohne weiteren Zeitverzug realisiert werden«.

Für die Untersuchung hat das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr Bilder und Informationen aus der Ukraine systematisch ausgewertet und Gespräche mit ukrainischem Sanitätspersonal geführt. Die Verletzungsmuster sind durch die Folgen von Explosionen, Granatsplitter, Verbrennungen und Verwundungen durch Chemikalien bestimmt. »Die einzelne Schussverletzung ist nicht das Problem«, sagt Oberstarzt Kai Schmidt, der seinen Dienstsitz in der Koblenzer Falckenstein-Kaserne hat. Als Fachmann für die Führung von Einsätzen und das Lagezentrum hat er die vorliegenden Informationen ausgewertet.

Das rote Kreuz als Zeichen des Sanitätsdienstes finde wenig bis keine Beachtung durch die russischen Streitkräfte, wird in der Untersuchung festgestellt und zahlreich dokumentiert. Und: »Es wurden sogar offensichtlich sanitätsdienstliche Einrichtungen und Fahrzeuge gezielt angegriffen, um nachhaltigen materiellen, personellen und moralisch Schaden zu erzeugen. Es wird zudem nicht zwischen militärischen und zivilen Kräften unterschieden.« Deswegen müssten Fahrzeuge und Einrichtungen gegen Angriffe geschützt und hochmobil sein.

Verwundete und Gefallene

Jeder zehnte Verwundete ist schwerverletzt. Zwei Drittel der bei einem Angriff getöteten Soldaten starben in den ersten zehn Minuten, ein weiteres Drittel ganz überwiegend binnen der ersten Stunde. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine sofortige Erstversorgung schon auf dem Gefechtsfeld ist, wo lebensbedrohliche Blutungen binnen weniger Minuten mit einem sogenannten Tourniquet - einem Abbindegurt - gestillt werden müssen. Die Ärzte sind auf Fälle gestoßen, in denen alle vier Extremitäten abgebunden und acht dieser Gurte zugleich angelegt werden mussten.

»Mit fast einem Fünftel liegt die Zahl der Gefallenen im Ukraine- Konflikt allerdings deutlich höher als die von der Nato kalkulierte, welche auch als Grundlage für die deutschen Planungsrationale verwendet wurde«, wird festgestellt. Den Ausfallraten der Nato liegt dabei die Annahme zugrunde, dass in etwa gleichwertige Gegner aufeinandertreffen werden. Dabei richten sich die Blicke auf Russland.

»Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime«

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) spricht davon, dass die Bundeswehr schnell fähig zur Landes- und Bündnisverteidigung werden muss. Er rief »Kriegstüchtigkeit als Handlungsmaxime« aus.

In Nato-Staaten wurden Berechnungen angestellt, wie viele Verletzte zu versorgen sind, wenn eine Division aus etwa 20.000 Soldaten im hochintensiven Gefecht gegen einen gleichwertigen Gegner kämpft. Deutschland hat der Nato für das Jahr einen solchen, gefechtsbereiten Großverband als »Division 2025« zugesagt. Beim Einsatz an vorderster Front ist mit mehreren hundert Verwundeten am Tag zu rechnen, womöglich auch mit bis zu 1000 Soldaten, die versorgt werden müssen - und auch in die Heimat zurückgeholt werden müssen.

Dabei setzen die Überlegungen Deutschlands bisher darauf, Patiententransporte zu zwei Dritteln auf der Straße und zu einem Drittel auf dem Luftweg realisieren zu können. Züge spielen keine Rolle. In der Ukraine aber werden knapp zwei Drittel der Verwundeten über die Schiene und ein Drittel auf der Straße zur sicheren Behandlung gebracht. Der Luftweg ist die absolute und gefährliche Ausnahme, weil die Ukraine keine Luftüberlegenheit hat.

Es lasse sich heute schon feststellen, dass in der Bundeswehr »Großraumtransportmittel für hohe Patientenaufkommen fehlen und zur Bewältigung der zu erwartenden Patientenzahlen deutlich mehr an Transportkapazität benötigt wird«, ist eine Erkenntnis. Gefordert werden etwa Krankenkraftomnibusse. Und: »In der Konsequenz kommt auf größerer Strecke der schienengebundenen Verlegung mit Lazarettzügen besondere Bedeutung zu.«

Die Sanitätsexperten raten zudem, die Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen auszubauen und materiell und personell ausreichende Reserven vorzuhalten. »Je mehr man von der Krise in den Krieg kommt, desto mehr wird es auf die zivilen Fähigkeiten ankommen. Die zivilen Kliniken in Deutschland müssen auch Kriegschirurgie können«, sagt Oberstarzt Schmidt.

Inzwischen wurden mehr als 900 verletzte ukrainische Soldaten zur Behandlungen nach Deutschland gebracht. Sie wurden im Land verteilt und größtenteils auf zivile Krankenhäuser, deren Ärzte nun oft zum ersten Mal schwerste Kriegsverletzungen behandeln.

Dabei kommt Deutschland in den Konzepten der Nato eine besondere Bedeutung als militärische Drehscheibe zu. Im Ernstfall wird man sich aber auch selbst helfen müssen. So heißt es: »Entgegen der aktuellen Lage in der Ukraine, wo viele Drittnationen Hilfe anbieten und Patienten und Flüchtlinge aufnehmen, wird Deutschland im Falle von Krise und Krieg weitgehend primär medizinisch und sanitätsdienstlich auf sich alleine gestellt sein; so wie mutmaßlich jede andere Nation in Europa ebenfalls.«

© dpa-infocom, dpa:231112-99-914474/3