Kaum jemand kannte die Grünen so gut wie Hans-Christian Ströbele. Er gründete die Partei vor vier Jahrzehnten mit, saß insgesamt 21 Jahre für sie im Bundestag. Dass die Grünen auch mal Union und SPD hinter sich lassen könnten, hatte er als Erster vorgemacht: 2002 wurde er in seinem Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg direkt in den Bundestag gewählt. Ein Kunststück, das er noch dreimal wiederholte. Am Montag starb Ströbele im Alter von 83 Jahren.
Seit seinem spektakulären Wahlsieg war »Ströbi«, wie ihn viele Grüne liebevoll nannten, eine Parteilegende. Sein Spruch »Gebt das Hanf frei«, vertont von Stefan Raab, wurde Teil der Popkultur. 2017 stieg er im Alter von 78 Jahren aus der aktiven Politik aus. Wegen einer Nervenkrankheit ging Ströbele am Stock. Eine Weile lang klemmte er sich die Gehhilfe noch auf den Gepäckträger des Fahrrads, das zu seinen Markenzeichen gehörte wie der rote Schal und das weiße Haar. Irgendwann stand das Fahrrad nur noch in der Ecke.
In den Ruhestand ging Ströbele mit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag noch nicht - dabei hatte er sich eigentlich mal für das Alter vorgenommen, Esel zu züchten im Odenwald, wo seine Familie ein Holzhäuschen samt Wiese hat. Stattdessen betrieb er weiter seine Anwaltskanzlei, in einem Altbau direkt an der Spree in Berlin-Moabit.
Am Regal hing dort ein altes Türschild mit der Aufschrift »Sozialistisches Anwaltskollektiv«, daneben Zeitungsartikel mit Schlagzeilen wie »Wütende Angriffe auf missliebige Anwälte«. Erinnerungen an Ströbeles Zeit vor den Grünen, als er zusammen mit dem späteren Bundesinnenminister Otto Schily und dem späteren Rechtsextremisten Horst Mahler zuerst protestierende Studenten und dann auch Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) verteidigte.
»Integer, bis in die Haarspitzen«
Dass der Sohn eines Chemikers aus Halle an der Saale überhaupt mal im Bundestag sitzen würde, hätte er Anfang der 1970er Jahre selbst als verrückt abgetan, wie er Jahrzehnte später sagte. Aber irgendwann hätten die sozialen Bewegungen sich gefragt, warum sie nicht im Parlament vertreten seien. Das habe er sofort eingesehen und dann mitgewirkt an der Gründung der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz und später der Grünen.
In den 70er-Jahren gehörte Ströbele zu den Mitgründern der linken Tageszeitung "taz", die er lange juristisch und geschäftlich beriet. »Integer, bis in die Haarspitzen«, nannte ihn die "taz" am Mittwoch in ihrem Nachruf und würdigte ihn als "Anarchist und Anti-Autoritären". Anders als andere Grüne habe Ströbele nie Mao oder stalinistischen Kommunisten gehuldigt und auch nie die DDR gepriesen.
Neben der Friedenspolitik gehörten auch die Geheimdienste zu seinen großen Themen als Parlamentarier. Ein Treffen mit Whistleblower Edward Snowden in Moskau machte international Schlagzeilen. In jüngerer Zeit begeisterte Ströbele sich für die Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future, mehrmals ging er zu den Demonstrationen.
»Natürlich habe ich meine Auffassung in einer ganzen Reihe von Punkten verändert. Aber im Grunde bin ich den politischen grundsätzlichen Veränderungsüberlegungen treu geblieben, die wir 1967, 68, 69, 70 hier in Berlin entwickelt haben«, sagte Ströbele mit knapp 80 Jahren über seine Zeit in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). »Wir hatten in der APO die Grundregel, alle Autoritäten in Frage zu stellen. Das muss sein.«
Gegen die Hartz-IV-Reformen
Mit dieser Einstellung machte Ströbele auch der eigenen Partei immer wieder zu schaffen - allen voran Joschka Fischer, der von 1998 bis 2005 Vizekanzler und Außenminister war. In seinem Bundestagsbüro hing ein Plakat mit dem Satz: »Ströbele wählen heißt Fischer quälen«.
Ströbele war gegen die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg, gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und gegen die Hartz-IV-Reformen. Auch in jüngerer Zeit kritisierte er seine Partei, weil aus seiner Sicht das Thema Friedenspolitik zu kurz kam. Das »linke Gewissen« der Grünen nannten einige ihn - eine Rolle, in der er sich gefiel.
Der Ukraine-Krieg war für Ströbele nach eigener Aussage ein Schock. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Putin so dumm ist und so unverschämt alle Staatsoberhäupter im Westen belogen hat«, sagte er der »Neuen Zürcher Zeitung«. Dennoch sei er »nach einigem Zögern« zu dem Schluss gekommen: »Es ist richtig, der Ukraine Waffen zu liefern. Defensivwaffen, so etwa Panzerfäuste«, wie er im Mai dem »Spiegel« sagte. Er sei aber strikt gegen die Lieferung schwerer Waffen. Wenn die ukrainische Armee Geländegewinne erziele, werde Putin am Ende vielleicht sogar taktische Atomwaffen einsetzen.
Seiner Partei hielt er bei aller Kritik bis zuletzt die Treue. Säße er noch im Bundestag, dann »natürlich bei den Grünen«, sagte er dem »Spiegel«. »Und wie die es von mir gewohnt sind, würde ich mich störend zu Wort melden. Weil es so verrückt ist, wie man in diesen Tagen mit Krieg und Frieden umgeht. Das macht mich zornig.«
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