Dicht gedrängt stehen die Demonstranten vor dem Regierungsgebäude im Zentrum von Warschau. Sie schwenken rot-weiße polnische und blaue Europa-Fahnen, sie trommeln, pfeifen, tröten und machen ihrer Wut auf die nationalkonservative PiS-Regierung Luft.
Auch Maria Kopycka hat eine Trommel dabei. Ihren Rucksack hat die 70-Jährige mit einer weiße Plüsch-Ente dekoriert - eine Anspielung auf den »Enterich« (kaczor), wie die PiS-Gegner Parteichef Jaroslaw Kaczynski nennen. »Ich bin stinksauer«, sagt die Rentnerin, die aus dem schlesischen Czestochowa nach Warschau gereist ist. »Ich fühle, dass unser Land in totalitäre Zeiten zurückfällt. Und das will ich nicht.«
So wie ihr geht es vielen, die dem Aufruf des früheren polnischen Regierungschefs und Oppositionsführers Donald Tusk zu dem Protest gefolgt sind. Die Veranstalter sprechen von einer halben Million Teilnehmer, die Nachrichtenagentur PAP berichtet unter Berufung auf inoffizielle Informationen der Polizei von 100.000 bis 150.000.
Das EU- und Nato-Land Polen hat sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs als verlässlicher Partner und standfester Unterstützer der Ukraine erwiesen. Doch im Inneren sehen viele autoritäre Tendenzen bei der PiS-Regierung. Die Sorge um den Fortbestand der Demokratie wächst.
Ein ganz besonderer Tag
Der 4. Juni ist in Polen ein symbolisches Datum: 1989 fanden an diesem Tag die ersten teilweise freien Wahlen statt. Während 65 Prozent der Mandate für die kommunistische Partei reserviert waren, konnten die Wähler über den Rest der Abgeordneten frei entscheiden - es wurde ein Triumph der Demokratiebewegung und der Gewerkschaft Solidarnosc. Die Wahlen in Polen leiteten zugleich den Beginn des politischen Wandels in Europa bis zum Fall der Mauer ein.
Auch der Held von damals ist zu der Demo nach Warschau gekommen: Lech Walesa, Friedensnobelpreisträger, einstiger polnischer Präsident und früher Chef der Solidarnosc. Als sich der 79-Jährige Seite an Seite mit Donald Tusk den Weg durch die Menge bahnt, wird das Gedränge so groß, dass die Personenschützer ihre Mühe haben.
Im Herbst steht in Polen die nächste Parlamentswahl an, und viele befürchten, dass sich die seit 2015 regierenden Nationalkonservativen an die Macht klammern und die Weichen so stellen könnten, dass sie nach der Wahl nicht von der Opposition abgelöst werden können. »Wenn wir uns nicht widersetzen, könnte die PiS die Wahlen manipulieren«, glaubt Szymon Czechowicz (20) aus dem ostpolnischen Rzeszow. »Aber wenn sie sehen, wie viele Leute auf die Straße gehen, werden sie sich das nicht trauen.«
Ein umstrittenes Gesetz
Die Angst vor einer Wahlmanipulation hat die PiS gerade mit einem umstrittenen Gesetz befeuert, das von Präsident Andrzej Duda am Montag unterzeichnet wurde. Es sieht die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur russischen Einflussnahme vor. Das Gesetz scheint wie maßgeschneidert, um Oppositionsführer Donald Tusk im Wahlkampf zu diskreditieren oder sogar aus dem politischen Leben zu verbannen. Polnische Medien sprechen von einer »Lex Tusk« - einem auf Tusk zielenden Gesetz. Denn die Kommission soll prüfen, ob Amtsträger in den vergangenen 15 Jahren unter dem Einfluss Moskaus Entscheidungen getroffen haben, die die Sicherheit des Landes gefährden.
Tusk war von 2007 bis 2014 polnischer Regierungschef und gilt als schärfster politischer Gegner des mächtigen PiS-Chefs Jaroslaw Kaczynski. Der 66-jährige Danziger pflegte enge Kontakte zur damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und versuchte auch, Polens Verhältnis zu Russland zu verbessern. Die PiS unterstellt ihm daher abwechselnd, er sei ein Lakai Deutschlands oder des Kremls.
Am Rand des Demonstrationszuges steht Eva Olof. Die 88-jährige aus Stettin hat sich einen Platz im Schatten gesucht und stützt sich auf ihre Schwiegertochter. »Bei der Verteidigung der Demokratie müssen wird alle zusammenstehen«, sagt sie entschlossen.
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