Das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) hat Russland wegen mangelnder Aufklärung eines Giftanschlags gegen Alexej Nawalny zu einer Geldstrafe verurteilt. Derweil drohen dem inhaftierten Kremlkritiker bei einem neuen Prozess in Russland viele weitere Jahre Haft.
Das neue Gerichtsverfahren wegen angeblichen Extremismus gegen Nawalny begann in Russland am Dienstag mit einer Vorverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. »Es ist unmöglich, das Gericht zu sehen oder zu hören«, schrieb Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch auf Twitter über die Vorverhandlung, die rund 260 Kilometer nordöstlich von Moskau direkt in Nawalnys Strafkolonie abgehalten wird. Journalisten wurde der Zutritt demnach noch vor Beginn des eigentlichen Prozesses bei einer vorbereitenden Sitzung verwehrt.
Niemand werde auf das Territorium der Haftanstalt gelassen, erklärte auch der Direktor von Nawalnys »Fonds für die Bekämpfung der Korruption«, Iwan Schdanow. »Der Prozess ist vollkommen geschlossen.« Seine Aussagen dokumentierte Schdanow mit einem Foto auf seinem Telegram-Kanal, das den Zaun der Strafkolonie zeigen soll. Darauf ist ein Plakat zu sehen, das Fotografieren und Filmen verbietet.
Später teilte Jarmysch mit, dass der eigentliche Prozessbeginn auf den 19. Juni verlegt wurde. Ihren Angaben nach soll der Prozess dann öffentlich sein - allerdings weiterhin im Gefängnis stattfinden.
Nawalny seit mehr als zwei Jahren in Haft
Nawalny sitzt bereits seit mehr als zwei Jahren in Haft. Er wurde im Sommer 2020 in Sibirien mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet und im Januar 2021 auf einem Moskauer Flughafen nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet, wo er nach dem Giftanschlag behandelt wurde.
Wegen angeblichen Betrugs verbüßt Nawalny derzeit eine neunjährige Haftstrafe. Nun hat die Staatsanwaltschaft einen neuen Prozess mit insgesamt sieben Anklagepunkten gestartet - dazu zählen Gründung und Finanzierung einer extremistischen Organisation. Sollte der 47-Jährige schuldig gesprochen werden, drohen ihm nach eigener Schätzung 30 Jahre Gefängnis. International gilt der bekannteste innenpolitische Gegner von Kremlchef Wladimir Putin als politischer Gefangener.
Der EGMR hat derweil Russland wegen unzureichender Ermittlungen nach der Vergiftung Nawalnys im Jahr 2020 verurteilt. Das Gericht in Straßburg bemängelte, dass ein politisches Motiv für den Mordversuch und eine mögliche Beteiligung von staatlichen Agenten nicht in Betracht gezogen worden seien. Nawalny überlebte den Anschlag damals nur knapp. Er wirft dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB vor, hinter der Vergiftung zu stecken. Die Behörde bestreitet dies.
Ermittlungen russischer Behörden laut Gericht nicht nachvollziehbar
Der EGMR urteilte nun einstimmig, dass Nawalny in seinem Recht auf Leben aus der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden sei. Die Ermittlungen der russischen Behörden seien nicht nachvollziehbar. Nawalnys Recht auf Beteiligung am Verfahren sei ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Russland wurde deshalb zur Zahlung von 40.000 Euro Schadenersatz verurteilt. Putin hat allerdings bereits angekündigt, Urteile des Gerichtshofs für Menschenrechte nicht mehr anzuerkennen.
Russland wurde wegen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen. Damit ist es auch kein Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr, für deren Einhaltung der Gerichtshof sorgt. Am Gerichtshof für Menschenrechte sind aber noch mehrere Tausend Klagen gegen Russland anhängig. Europarat, Menschenrechtskonvention und Gerichtshof sind unabhängig von der EU.
© dpa-infocom, dpa:230606-99-956623/5