Die Nato-Staaten haben sich auf neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet verständigt. Die Annahme der Dokumente erfolgte am Montag, einen Tag vor dem Beginn des Gipfeltreffens in Litauen, in einem schriftlichen Verfahren, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) von mehreren Diplomaten erfuhr. Die Entscheidung soll an diesem Dienstag von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.
Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der dpa detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.
»Das ist eine unmittelbare Konsequenz aus Putins Angriff auf die Ukraine«, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius zuletzt in Brüssel zu den Arbeiten an den neuen Plänen. Es sei das erste Mal seit Jahrzehnten, dass es wieder neue Pläne gebe.
Doppelaufgabe für Deutschland
Deutschland weisen die Pläne nach Angaben von Pistorius eine Doppelaufgabe zu. Zum einen werde man wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges aufgrund der geografischen Lage die logistische Drehscheibe für die Verlegung von Truppenverbänden und Material sein, erklärte er. Zum anderen werde man Verantwortung für die Ostflanke übernehmen und dort für mehr Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit sorgen.
So wie die alte Bundesrepublik vor 1989 in der exponierten Lage an der Ostflanke gewesen sei, seien dies nun die baltischen Staaten, sagte Pistorius. Wichtig sei, dass nun auch sie darauf vertrauen könnten, dass die Alliierten ihre Freiheit und Sicherheit im Ernstfall verteidigten.
Neben möglichen Angriffen durch Russland sind auch Bedrohungen durch Terrorgruppen Grundlage der Planungen. Hintergrund sind die Erfahrungen mit Anschlägen des Terrornetzwerks Al-Kaida auf die USA am 11. September 2001, aber auch der Druck von Ländern wie der Türkei, die es vor allem immer wieder mit Terrorakten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu hat.
Dass die Nato jetzt so viele Veränderungen vornehmen muss, hat vor allem damit zu tun, dass nach dem Ende des Kalten Krieges der Fokus von der Bündnisverteidigung auf Krisenmanagement verschoben wurde. Dabei ging es vor allem darum, auf Einsätze auf dem Balkan oder im Nahen Osten gut vorbereitet zu sein.
Neue Streitkräftestruktur
Umgesetzt werden sollen die Pläne unter anderem mit Hilfe einer neuen Streitkräftestruktur. So hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits beim Nato-Gipfel im vergangenen Jahr angekündigt, dass künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche Nato-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der Nato für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit circa 40.000 Soldatinnen und Soldaten.
Deutschland hatte sich bereits im vergangenen Jahr bereit erklärt, für die neue Nato-Truppenstruktur eine Division - also rund 15.000 Soldatinnen und Soldaten - zu stellen. Darüber hinaus wurden etwa 65 Flugzeuge und 20 Schiffe sowie Unterstützungskräfte und weitere Verbände mit besonderen Aufgaben in Aussicht gestellt.
Die neuen Verteidigungsplanungen sehen vor, dass die Verbände in der Regel in ihren jeweiligen Heimatländern stationiert bleiben, aber bestimmten Ländern und Territorien zugewiesen werden - zum Beispiel an der Nato-Ostflanke. Wenn nötig, werden die Kräfte in ihr jeweiliges Gebiet verlegt, um dort für dessen Schutz zu sorgen. In besonders gefährdeten Regionen ist zudem deutlich mehr Abschreckung durch ständige Präsenz geplant. Deshalb will Deutschland auch rund 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren.
Geografisch wurde das Nato-Gebiet für die Planungen in drei Regionen eingeteilt:
- Die erste erstreckt sich von den USA über den Atlantik bis nach Island, Großbritannien und Norwegen
- Die zweite umfasst Europa nördlich der Alpen mit Deutschland, Polen, Mittelosteuropa und einschließlich der baltischen Staaten.
- Und die dritte zieht sich über den Mittelmeerraum und den Balkan bis hin in die Schwarzmeer-Regionen mit Ländern wie Rumänien und Bulgarien.
Nach Angaben aus dem Bündnis geht es bei den Planungen vor allem um die Abwehr eines Angriffes im Ausmaß von dem auf die Ukraine. Dabei wurden auch etliche Bereiche identifiziert, in denen Europa nun mehr tun muss. Den Militärs zufolge braucht es so mehr schwere Kräfte, die auch heftigen Kämpfen standhalten können, mehr Flugabwehrsysteme und mehr weitreichende Artillerie und Raketensysteme. Zudem seien auch Investitionen in Informations- und Datenmanagementsysteme sowie in die Logistik vonnöten.
»Wir haben erkannt, dass wir tatsächlich wieder mit einer Artikel-5-Situation konfrontiert sein könnten, in der ein Teil des Nato-Territoriums direkt angegriffen wird«, sagte ein ranghoher Nato-Beamter der dpa. Und der Ukraine-Krieg habe gezeigt, dass es sich dabei auch um einen Angriff erheblichen Ausmaßes handeln könnte, mit dem Ziel, die Kontrolle über einen Teil des Nato-Territoriums zu erlangen.
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