Logo
Aktuell Ausland

Nato plant den Abwehrkrieg gegen Russland

Erstmals seit dem Ende des Kalten Kriegs hat die Nato wieder umfassende Verteidigungspläne. Das Gipfeltreffen in Litauen stellt die Weichen - auf Deutschland kommt dabei wie früher eine zentrale Rolle zu.

Nato-Gipfel
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande des Nato-Gipfels. Foto: Kay Nietfeld/DPA
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande des Nato-Gipfels.
Foto: Kay Nietfeld/DPA

Ein Angriff Russlands gegen das Baltikum oder Polen? Was viele Jahre lang als absolut unrealistisch galt, beschäftigt seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder Hunderte Militärstrategen der größten Verteidigungsallianz der Welt. Beim Nato-Gipfeltreffen in Litauen bestätigten jetzt die Staats- und Regierungschef geheime Pläne für den Fall der Fälle. Auf mehr als 4400 Seiten wird dort festgelegt, wie kritische Orte im Bündnisgebiet geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollen.

»Die Verbündeten haben die umfassendsten Verteidigungspläne seit dem Ende des Kalten Kriegs gebilligt«, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Vilnius.

In ihrer Gipfelerklärung beschreiben die Staats- und Regierungschefs die aktuelle Lage in düsteren Worten. »Der Frieden im euroatlantischen Raum wurde zunichtegemacht«, heißt es dort. Russland habe mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine gegen die Normen und Grundsätze verstoßen, die zu einer stabilen und vorhersehbaren europäischen Sicherheitsordnung beigetragen hätten und sei nun »die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für den Frieden und die Stabilität im euroatlantischen Raum«.

Mit den Plänen schlagen die Nato-Staaten als Reaktion nun ein altes Kapitel neu auf. Denn sie entsprechen nach Angaben von Militärs in Grundzügen den Dokumenten, die es in der Zeit des Kalten Kriegs gab. Damals war die Geografie allerdings noch eine andere - und es wurde insbesondere für den Fall geplant, dass Deutschland vom Gebiet der damaligen DDR und Tschechoslowakei aus angegriffen wird. Heute gelten hingegen vor allem die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen als besonders bedroht.

Pistorius: Maßnahmen sind einzigartig

Definiert wird nun, welche militärischen Fähigkeiten zur Abschreckung und Abwehr von Angriffen notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt in Vilnius, die Maßnahmen für mehr Abschreckung und Verteidigung seien einzigartig »seit Beginn des Kalten Krieges in jeder Beziehung«.

Der SPD-Politiker nennt eine Zuordnung von Regionen zu den einzelnen Bündnispartnern, Planungen für die eingesetzten Militäreinheiten und zudem auch ein »Alarmierungsmodell«. Dieses beschreibe, wann der Nato-Oberbefehlshaber in Europa (Saceur) Nato-Truppen zum Einsatz anfordern könne und welche Beiträge von den Mitgliedsstaaten dann zu leisten seien.

»Jedes Nato-Mitglied weiß, was es zu tun hat und in welcher Situation es gefordert ist«, sagt Pistorius dazu. Auf Deutschland komme eine »Schlüsselrolle« zu, denn es sei von der geografischen Lage her die logistische Drehscheibe in Europa. »Alles, was von West nach Ost geht, muss durch Deutschland«, erklärte er. »Wenn der Ernstfall da ist oder zu erwarten ist, dann muss es schnell gehen. Dann müssen die Verlegungen schnell und zuverlässig funktionieren.«

Rund 4000 deutsche Soldaten dauerhaft in Litauen

Umgesetzt werden sollen die Pläne unter anderem mit Hilfe einer neuen Streitkräftestruktur. Bereits bekannt war, dass dafür künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche Nato-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der Nato für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit rund 40.000 Soldatinnen und Soldaten.

Die neuen Planungen sehen vor, dass die Verbände in der Regel in ihren jeweiligen Heimatländern stationiert bleiben, aber bestimmten Ländern und Territorien zugewiesen werden - zum Beispiel an der Nato-Ostflanke. Wenn nötig, werden die Kräfte in ihr jeweiliges Gebiet verlegt, um dort für dessen Schutz zu sorgen. In besonders gefährdeten Regionen ist zudem deutlich mehr Abschreckung durch ständige Präsenz geplant. Deshalb will Deutschland auch rund 4000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren.

Geografisch wird das Nato-Gebiet für die Planungen in drei Regionen eingeteilt:

- Die erste erstreckt sich von den USA über den Atlantik bis nach Island, Großbritannien und Norwegen.

- Die zweite umfasst Europa nördlich der Alpen mit Deutschland, Polen, Mittelosteuropa und einschließlich der baltischen Staaten.

- Und die dritte zieht sich über den Mittelmeerraum und den Balkan bis hin in die Schwarzmeer-Region mit Ländern wie Rumänien und Bulgarien.

»Die Ostsee wird jetzt effektiv zum Nato-Meer werden«

Nach Angaben aus dem Bündnis geht es bei den Planungen vor allem um die Abwehr eines Angriffs im Ausmaß von jenem auf die Ukraine. Dabei wurden auch etliche Bereiche identifiziert, in denen Europa nun mehr tun muss. Den Militärs zufolge braucht es mehr schwere Kräfte, die auch heftigen Kämpfen standhalten können, mehr Flugabwehrsysteme und mehr weitreichende Artillerie und Raketensysteme.

Im Osten des Bündnisgebietes werden die Pläne als wichtige Weichenstellung gewürdigt. "Das bedeutet, dass wir wirklich bereit sind, unser Land vom ersten Zentimeter an, vom ersten Moment an zu verteidigen", sagt Estlands Regierungschefin Kaja Kallas. Ihr lettischer Amtskollege Krisjanis Karins weist zudem auf die Bedeutung der geplanten Aufnahme Schwedens hin. »Die Ostsee wird jetzt effektiv zum Nato-Meer werden«, erklärte er. Dies habe unglaublich positive Auswirkungen auf die Sicherheit der baltischen Staaten.

Einen Erfolg kann allerdings auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verbuchen. Neben möglichen Angriffen durch Russland sind nämlich auch Bedrohungen durch Terrorgruppen Grundlage der Planungen. Hintergrund sind die Erfahrungen mit Anschlägen des Terrornetzwerks Al-Kaida auf die USA am 11. September 2001, aber auch der Druck der Türkei, die es vor allem immer wieder mit Terrorakten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu tun hat.

© dpa-infocom, dpa:230712-99-377225/3