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Nationale Sicherheitsstrategie mit Lücken

Lange haben die Verhandlungen gedauert, nun hat Deutschland erstmals eine umfassende Sicherheitsstrategie. Sie soll die Kräfte gegen Bedrohungen von innen und außen bündeln. An vielen Stellen bleibt sie aber unkonkret.

Nationale Sicherheitsstrategie
Die Bundesregierung hat eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen, die alle Aspekte der äußeren und inneren Sicherheit umfasst. Foto: Michael Kappeler
Die Bundesregierung hat eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen, die alle Aspekte der äußeren und inneren Sicherheit umfasst.
Foto: Michael Kappeler

Mit der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie will die Bundesregierung Deutschland besser gegen wachsende Bedrohungen von innen und außen wappnen. Nach 15 Monate langen Beratungen beschloss das Kabinett das mehr als 70 Seiten starke Konzept, in dem erstmals alle sicherheitsrelevanten Themen von der Ausrüstung der Bundeswehr über den Kampf gegen den Klimawandel bis zum Katastrophenschutz verknüpft werden.

Das Ziel sei klar, schreibt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Vorwort: »Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu wahren und unseren Beitrag zur Sicherheit Europas zu leisten.«

Es bleiben aber viele Fragen offen, zum Beispiel was den Umgang mit China oder die Sicherheit der Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskriegs angeht. Eine neue Institution zur Koordinierung im Krisenfall wird auch nicht eingerichtet. Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) halten einen neuen Nationalen Sicherheitsrat nach dem Vorbild der USA nicht für nötig.

Die Idee: »Die ganze Palette unserer Sicherheit«

Mit dem Thema Sicherheit sind praktisch alle Bundesministerien befasst - die einen mehr, die anderen weniger. Eine Gesamtstrategie für alle gab es bisher aber nicht. Das Verteidigungsministerium erarbeitete zwar immer wieder Weißbücher zur Sicherheitspolitik - zuletzt 2016. Aber darin ging es um die äußere Sicherheit, vor allem um die Landes- und Bündnisverteidigung. Jetzt gibt es ein Dokument für alles.

Es gehe »um die ganze Palette unserer Sicherheit«, betonte Scholz. Um diese zu gewährleisten, brauche man nicht nur das Militär, sondern Diplomatie genauso wie Polizei und Feuerwehr, Technische Hilfswerke, Entwicklungszusammenarbeit, Cyber-Sicherheit und den Schutz von Lieferketten. »All diese Mittel und Instrumente müssen ineinander greifen und zusammenwirken, um die Sicherheit unseres Landes zu stärken«, sagte der Kanzler.

Bekannte Bekenntnisse: Kehrtwende kam schon mit der Zeitenwende

Aber was heißt das konkret? In der Verteidigungspolitik hat die Bundesregierung mit der Zeitenwende-Rede des Kanzlers nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die Kehrtwende bereits vollzogen. Die bestehenden Bekenntnisse werden in der Strategie bekräftigt, etwa das Ziel, künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren.

Das heutige Russland wird »auf absehbare Zeit« als »größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum« eingestuft - auch keine Überraschung. Und dass Deutschland sich international breiter aufstellen muss, um wirtschaftliche Abhängigkeiten vor allem von China zu verringern, wird von Scholz und Baerbock längst praktiziert. Sie reisen um die Welt, um neue Partner zu finden und bestehende Partnerschaften zu stärken.

Die Lücken: Vieles bleibt unkonkret

An vielen Stellen bleibt die Sicherheitsstrategie unkonkret - aus unterschiedlichen Gründen.

- Ukraine: Unterstützung so lange es nötig ist - das ist der oberste Grundsatz der deutschen Ukraine-Politik. Wie man die Sicherheit des von Russland angegriffenen Landes nach Ende des Krieges gewährleisten sollte, wird aber offengelassen. Darüber laufen derzeit Gespräche in der Nato mit Blick auf den Gipfel in Litauen im Juli.

- China: Dafür wird eine eigene Strategie erarbeitet, die aber erst nach den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin in der nächsten Woche präsentiert werden soll. Darin dürften dann auch heikle Themen wie die Taiwan-Frage oder chinesische Beteiligungen an deutscher Infrastruktur enthalten sein. Ob das China-Papier noch vor der Anfang Juli beginnenden parlamentarischen Sommerpause fertig wird, ließ Scholz offen.

- Rüstungsexporte: Dazu wird seit mehr als einem Jahr ein Gesetz erarbeitet, das ursprünglich zum Ziel haben sollte, Waffenlieferungen in Länder außerhalb von EU und Nato strenger zu kontrollieren. Das war vor der Zeitenwende. Inwieweit jetzt Lockerungen nötig sind, um Partnerschaften über die Nato hinaus zu stärken, lässt die Strategie offen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) machte eine klare Ansage dazu: »Natürlich sind Rüstungsexporte angesichts der neuen Weltlage auch ein Teil des strategischen Instrumentenkastens.«

Die Institutionen: Kein Nationaler Sicherheitsrat

Die Beratungen über die Sicherheitsstrategie hatten im März 2022 begonnen - kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Dass es so lange gedauert hat, hängt auch damit zusammen, dass sich Scholz und Baerbock lange nicht darauf einigen konnten, ob eine zentrale Schaltstelle für die Koordinierung aller Sicherheitsfragen nötig ist. Das Auswärtige Amt fürchtete, mit einem von der FDP und auch der Union geforderten Nationalen Sicherheitsrat Einfluss zu verlieren, wenn das Kanzleramt dessen Federführung übernimmt - eine Machtfrage.

Am Ende entschied man sich dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Man habe »einen größeren Mehrwert nicht erkannt«, sagte Scholz. Für Sicherheitsfragen sind nun weiterhin der Bundessicherheitsrat und das Sicherheitskabinett mit dem Kanzler und mehreren Ministern zuständig. FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte auf die Frage, ob er hier eine Kröte habe schlucken müssen, es gebe »immer alternative Handlungsoptionen. Innerhalb einer Regierung bildet man sich aber dann eine gemeinsame Auffassung auch hinsichtlich der Methode der Zusammenarbeit. Und das ist hier passiert.«

Die Kritiker: Länder fühlen sich überrumpelt

Zu einer Nationalen Sicherheitsstrategie gehören eigentlich auch die Länder, die zum Beispiel für die Landespolizeien zuständig sind. Sie beklagen, nicht ausreichend einbezogen worden zu sein. »Wenn die Bundesregierung ein ernsthaftes Interesse daran hätte, eine zukunftsweisende Sicherheitsstrategie zu entwickeln, so hätte sie die Länder in geeigneter Form über die fachlichen Arbeitskreise der Innenministerkonferenz beteiligen müssen«, sagte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), Sprecher der unionsgeführten Innenministerien, bereits vor dem Kabinettsbeschluss.

Auch Oppositionsführer Friedrich Merz kritisierte eine fehlende Länderbeteiligung und lässt auch sonst kein gutes Haar an der Strategie: »Was wir jetzt hier vorliegen haben als Nationale Sicherheitsstrategie ist inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant, operativ folgenlos und außenpolitisch unabgestimmt«, bemängelte der CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag, der auch CDU-Vorsitzender ist.

Der Nebeneffekt: Signal der Einigkeit in schwierigen Koalitionszeiten

Die Ampel-Koalitionäre zeigten sich mit dem Ergebnis aber trotz aller Lücken zufrieden. Bei der Vorstellung der Strategie im Saal der Bundespressekonferenz, dem Verein der Hauptstadtjournalisten, ließ sich Scholz von vier Ministerinnen und Ministern unterstützen. Ein so großes Kabinettsaufgebot gibt es dort nur selten. Für die FDP war Lindner dabei, der zwar kein klassisches Sicherheitsressort hat, aber das Geld, um Sicherheit zu finanzieren.

Echte Differenzen ließen die fünf nicht erkennen. In den vergangenen Wochen hat es auch so schon genug Streit in der Ampel gegeben, zuletzt vor allem über das Heizungsgesetz. Am Mittwoch wirkte die Ampel-Delegation auf dem Podium ziemlich entspannt. An einer Stelle sagte Scholz sogar mit einem Schmunzeln: »Wir wollen auch noch die nächste Legislaturperiode gemeinsam gestalten. (...) Nur, damit da kein Missverständnis aufkommt.«

© dpa-infocom, dpa:230614-99-45317/9