Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 495 Stimmen haben die britischen Konservativen den früheren Wahlkreis ihres Ex-Premierministers Boris Johnson verteidigt. In zwei anderen Bezirken musste sich die Regierungspartei bei Nachwahlen zum Unterhaus der Opposition von Labour und Liberaldemokraten deutlich geschlagen geben. Dies stand nach Auszählung der Stimmen in der Nacht zum Freitag fest. In Großbritannien wird vermutlich im kommenden Jahr ein neues Parlament gewählt. Derzeit liegen die Konservativen in den Umfragen weit hinter der größten Oppositionspartei Labour.
Die Nachwahlen in den drei bislang von den Konservativen gehaltenen Wahlkreisen waren durch Rücktritte erforderlich geworden: Johnson hatte seinen West-Londoner Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip aufgegeben, sein Verbündeter Nigel Adams den Wahlkreis Selby and Ainsty. Auch im Wahlkreis Somerton and Frome in der Grafschaft Somerset wurde neu gewählt. Umfragen hatten auf eine Dreifach-Schlappe für die Konservativen hingedeutet. Daran schrammten sie nun noch einmal knapp vorbei.
»Fantastische Neuigkeiten aus Uxbridge«, schrieb Johnson auf Twitter und gratulierte seinem Parteifreund Steve Tuckwell, der sein Mandat nun übernimmt. Er fügte hinzu: »Das zeigt, dass die Konservativen in London und überall im Land gewinnen können.« Etwas zurückhaltender gab sich der amtierende Premier Rishi Sunak. Ein Regierungswechsel bei der nächsten Parlamentswahl sei jedenfalls, anders als von vielen angenommen, noch keine abgemachte Sache, sagte er bei einem Besuch in dem Londoner Wahlkreis. Labour-Chef Keir Starmer sprach hingegen von einem »historischen Sieg« für seine Partei.
Kein Grund für übermäßige Freude
Grund zum Jubeln gibt es für die konservativen Tories laut Politikwissenschaftler John Curtice nicht. Der knappe Sieg im früheren Johnson-Wahlkreis dürfte vor allem mit der umstrittenen Ausweitung der Umweltzone von Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan zu tun gehabt haben. Fahrzeuge mit bestimmten Schadstoffklassen dürfen nur gegen hohe Gebühr in die Umweltzone fahren, die nun auf den ganzen Großraum ausgeweitet wird. Das dürfte den Tories Aufwind gegeben haben. Aufs ganze Land bezogen werde das den Konservativen aber nicht helfen, so der Experte.
Im Wahlkreis Selby und Ainsty in North Yorkshire bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen der Tories. Dort setze sich der erst 25 Jahre alte Kandidat Keir Mather von der Labour-Partei durch. Sein Sieg in dem Wahlkreis stellt laut Curtice mit etwa 24 Prozent die zweitgrößte Wählerwanderung von den Konservativen zu Labour in der Geschichte britischer Nachwahlen dar. Ähnlich ging die Nachwahl im beschaulichen Somerton and Frome in Somerset aus. Dort durften die Liberaldemokraten jubeln. Dem Experten zufolge weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die Wähler taktisch vorgegangen sind und für diejenige Partei gestimmt haben, die den Tories am ehesten gefährlich werden kann.
Johnson hatte sein Mandat im Juni niedergelegt, um einer Strafe durch einen Untersuchungsausschuss zu entgehen. Dieser hatte sich mit seinen Äußerungen im sogenannten Partygate-Skandal um verbotene Feiern während der Corona-Pandemie beschäftigt. Der Ausschuss befand, dass Johnson mehrfach gelogen hat. Inzwischen schreibt der Ex-Premier wieder Kolumnen für eine Tageszeitung. Ihm werden aber Ambitionen auf eine Rückkehr an die Patei- und Regierungsspitze nachgesagt.
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