Fatima Faisi schwirrt der Kopf, wenn sie an jenen Tag im August 2021 in der afghanischen Hauptstadt Kabul denkt. »Es war apokalyptisch«, sagt sie. Tausende Afghanen waren wie sie auf den Flughafen geströmt, um auf einen Evakuierungsflug zu kommen. »Alles am Flughafen war zerstört und geplündert, Taliban-Kämpfer schlugen uns mit Stöcken, um uns zu vertreiben. Am Flugfeld versuchten amerikanische Hubschrauber, die Menge auseinanderzutreiben - und die Afghanen warfen absurderweise mit Steinen auf sie.«
Die Bilder von den chaotischen Zuständen gingen um die Welt. Es war der 15. August 2021, ein Sonntag, an dem die militant-islamistischen Taliban Kabul nach einer Blitzoffensive als letzte Stadt des Landes einnahmen. Damit hatten sie nach 20 Jahren erneut die Macht erobert. Ihre Ankunft und die Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani lösten eine Massenpanik aus. Die US-Truppen, die jahrelang mit afghanischen Soldaten den Taliban-Aufstand bekämpft hatten, waren in den letzten Zügen ihres Abzugs. In einer eilig aufgestellten Evakuierungsmission wurden binnen weniger Tage mehr als 120.000 Menschen ausgeflogen, um sie vor Racheakten der Taliban zu schützen.
Der Flughafen Kabul wurde zu einem Katapult, das Ortskräfte, Menschenrechtler, Minister, Soldaten - aber auch Menschen, die es aus purem Zufall auf einen Flug schafften - völlig unvorbereitet in alle Teile der Welt schoss. Zwei Jahre später haben sich die wenigsten in ihrem neuen Leben eingefunden. Sie kämpfen mit dem Verlust ihrer Heimat, einer Ohnmacht, nichts mehr gegen die Taliban tun zu können, Wut, Schuldgefühlen und der Bürde, von vorne beginnen zu müssen.
Wie geht es Geflohenen heute?
Die heute 28-jährige Faisi war eine der Evakuierten. Sie hatte vier Jahre zuvor angefangen, für die US-Zeitung »New York Times« zu arbeiten. Sie war mutig und brillant, bekam unzählige Drohungen für ihre Geschichten und überlebte einen Anschlag in Kabul nur mit Glück. Vier Tage nach dem Fall Kabuls schaffte sie es auf eine Militärmaschine. Keiner, der eingestiegen war in dieses Karussell der Evakuierungen, wusste, wo er schließlich landen würde. Nach mehrtägigen Zwischenstopps in Doha und Mexiko-Stadt kam sie in Houston im südlichen US-Bundesstaat Texas an.
»Ich habe nicht mal gewusst, wie man Houston ausspricht«, sagt Faisi. In einem Motel dort realisierte sie erstmals, was passiert war. »Mich überkam diese Welle an Wut, dieses Gefühl, betrogen worden zu sein«, erzählt sie. »Ich begann mit jedem Streit, beschuldigte jeden am Verlust meines Lebens und Landes - mich, meine Kollegen, die Amerikaner, die afghanische Regierung.«
Viermal ist sie seither umgezogen. »Ich bin irgendwie immer noch auf der Flucht«, sagt sie. Von ihren fünf Familienmitgliedern habe nur ihr 22-jähriger Bruder Arbeit gefunden - als Lagerarbeiter. Er ernähre nun die Familie. Sie habe sich bei vielen Medien beworben, doch diese hätten ihre mangelnde Landeskenntnis bemängelt. Auch beim Supermarkt Walmart wollte man sie nicht.
An diesen langen Sommertagen, die sie oft mit Gärtnern verbringt, und so nahe am 15. August drängen sich die Erinnerungen besonders auf. »Der Fall von Kabul war ein Sturm, der unseren Stamm ausriss, aber unsere Wurzeln sind noch immer tief im Boden«, sagt sie. In den kurzen Nächten suchen sie ohne Unterlass schwere Alpträume heim.
Welche Erinnerungen hat Fatima?
Sie könne nachvollziehen, dass die Amerikaner nach 20 Jahren abziehen wollten. Aber da seien auch ihre Freunde, die sie im Krieg verloren hat, die gegen die Rückkehr der Taliban gekämpft hatten. »Es ist diese eine Frage, die ich nicht beantworten kann«, sagt sie. »Wieso mussten sie sterben, wenn heute ohnehin wieder die Taliban an der Macht sind?« Sie denke oft an einen befreundeten Soldaten, der zehn Mal verwundet wurde. »Kaum aus dem Krankenhaus, zog er wieder seine Uniform an«, erzählt Faisi. »Und heute weiß ich nicht mal, wo oder ob er begraben wurde, denn wir haben seine Leiche nie gefunden.«
Nach dem Sinn der vergangenen 20 Jahre suchen auch ehemalige Regierungsbeamte. »Was am 15. August passiert ist, ist eigentlich nichts Neues«, sagt ein Ex-Beamter, der im Präsidentenpalast arbeitete und heute in London lebt. »In meinem kurzen Leben habe ich dreimal einen Zusammenbruch des Regimes in Afghanistan erlebt.«
Seit dem Fall von Kabul »sind wir alle durch die Hölle gegangen, und es ist noch nicht vorbei«, sagt er. »Zur Jahrtausendwende war Afghanistan ein elender Ort«, erinnert er. »Dann hatten wir alles - vor allem junge Leute«, erklärt er mit Blick auf die Öffnung des Landes nach dem ersten Taliban-Regime und den wirtschaftlichen Aufschwung. »Ein Jahrzehnt später haben wir jetzt nichts mehr.« Es sei so hart, sich damit abzufinden. »Uns war nicht klar, dass wir in einer Blase lebten. Es war nicht real.«
Chaibar Daulatsai hat ein neues Leben in den USA
In der Realität angekommen ist Chaibar Daulatsai. Der 35-Jährige fand sich im US-Bundesstaat Utah wieder. Der Ex-Bataillonskommandeur, der 12 Jahre diente und in 33 der 34 Provinzen des Landes gegen die Taliban gekämpft hatte, sprach kein Wort Englisch und hatte keine Ahnung von amerikanischer Kultur. Als er in Salt Lake City ankam, war Halloween. »Die Häuser waren mit Geistern und Kürbissen dekoriert«, erzählt er. »Und ich habe mir gesagt: Du meine Güte, du bist in der Stadt der Verrückten gelandet.« Anfangs habe er viele Probleme gehabt. Vier Anläufe habe er gebraucht, um den Führerscheintest zu bestehen. Nun arbeitet er als Lastwagenfahrer.
Noch am Morgen des 15. Augusts hatte Daulatsai in einem Bezirk der Provinz Kabul gekämpft. Als die Gerüchte die Runde machten, die Hauptstadt sei gefallen, beorderte ihn der Generalstabschef zum Flughafen. »Ich bin mit 50 meiner Soldaten los. Unterwegs sind wir mindestens zehn Mal mit Taliban-Einheiten zusammengekracht«, erzählt er. Nur Tage davor sei bei einem von ihm geleiteten Einsatz ein wichtiger Taliban-Kommandeur getötet worden. Am Flughafen hatte er keine Wahl: »Sie hätten mich nicht am Leben gelassen.«
Sein Leben konnte er retten, aber sonst ist Daulatsai wenig geblieben. »Ich fühle mich sehr einsam«, sagt er. Er sei seit drei Monaten Tag und Nacht in seinem Truck. »Wenn ich zuhause bin, kommen mir zu viele Gedanken«, sagt er. Wozu auch zuhause sein, zumal seine Frau und seine sechs Kinder immer noch nicht da seien. Die Dokumente seien immer noch nicht durch. »Meine jüngste Tochter ist jetzt zwei Jahre alt. Sie wurde eine Woche vor dem Fall von Kabul geboren, und ich habe sie noch nicht einmal umarmt.«
Wie ging es nach dem Fall von Kabul weiter?
Nach dem Fall Kabuls versprachen die Taliban zunächst, moderater zu regieren. Dann aber wurde ihre Herrschaft immer autoritärer und dogmatischer. Frauen und Mädchen sind vom öffentlichen Leben nun weitgehend ausgeschlossen. Das international isolierte Land befindet sich in einer schweren humanitären und wirtschaftlichen Krise.
Auch Mohammed Tarik weiß, wie es ist, die eigenen Kinder zurücklassen zu müssen. »Ihren Gesichtsausdruck, als wir gingen, den konnte ich lange nicht vergessen«, sagt der 57-Jährige über seine zwei Söhne. Neun Jahre und neun Monate hat Tarik für die deutsche Entwicklungshilfe im nordöstlichen Badachschan gearbeitet. Als Leiter im Risikomanagement erstellte er Einschätzungen zur Sicherheitslage. Als er seine Dokumente einreichte, hieß es, Kinder über 18 dürften nicht mitgenommen werden. Seine Söhne waren damals 22 und 26.
Seit gut einem Jahr lebt er in einem kleinen Ort in Bayern. Anfangs sei es nicht einfach gewesen, mittlerweile habe er sich an das Wetter und das Leben gewöhnt, sagt er. Zumindest einen seiner Söhne hat er mittlerweile wieder bei sich. Deutsche Freunde habe er noch nicht. »Wo ich wohne, sind nicht so viele Deutsche«, sagt Tarik. Die, die da seien, grüßten freundlich. Er hätte gerne eine Arbeit, sei beim Jobcenter gewesen. »Ich bin 57 und habe gesagt, dass ich gesund bin und arbeiten kann«, erzählt er. Die fehlenden Sprachkenntnisse seien ein Hindernis. »Ich will einfach eine Arbeit, damit eine Hand beschäftigt ist und die andere unabhängig wird«, betont er.
In den Monaten nach der Taliban-Machtübernahme habe er das Haus fast nie verlassen. Nun freue er sich, über vieles nicht mehr nachdenken zu müssen. »In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viel Freiheit, wie hier«, sagt er. Insgesamt fühle er sich, abgesehen von Alpträumen wohl. Er sehe nicht, wer die Taliban wieder von der Macht vertreiben sollte. »Ich denke, die Welt hat Afghanistan aufgegeben.«
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