In Montenegro haben die Bürger am Sonntag ein neues Parlament bestimmt. Nach der Abwahl des lange regierenden pro-westlichen Präsidenten Milo Djukanovic im April entscheidet die vorgezogene Wahl über die neue Machtverteilung in dem kleinen Balkan- und Nato-Land.
Bis 13.00 Uhr gaben 28,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, wie das Wahlforschungsinstitut Cemi in Podgorica mitteilte. Das waren 7,4 Prozentpunkte weniger als bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl zur selben Zeit.
»Europa Jetzt!« als Favorit
Als Favorit ging die neue Bewegung »Europa Jetzt!« ins Rennen, die sich modernisierungsfreudig gibt und das Land in die EU führen will, sich zugleich aber auch stärker an das Nachbarland Serbien anlehnt. Sie stellt mit Jakov Milatovic bereits den Präsidenten. Bei der Stichwahl im April hatte er Djukanovic deutlich geschlagen.
Eine absolute Mehrheit für »Europa Jetzt!« galt Umfragen zufolge als unwahrscheinlich. Spitzenkandidat Milojko Spajic wird voraussichtlich Partner für eine Koalition brauchen. Die ehemalige Präsidentenpartei DPS, von deren Spitze sich Djukanovic nach seiner Wahlniederlage zurückzog, dürfte zweitstärkste Kraft werden. »Europa Jetzt!« betrachtet sie aber vorerst nicht als potenziellen Koalitionspartner. Die pro-serbische und pro-russische Demokratische Front (DF), die unter dem Namen »Für die Zukunft Montenegros« antritt, könnte den Umfragen zufolge auf den dritten Platz kommen. Es bleibt offen, ob und in welcher Form sie zu einer Regierungsmehrheit beitragen wird.
EU-Beitritt wird seit 2012 verhandelt
Djukanovic bestimmte seit dem Zerfall Jugoslawiens in wechselnden Funktionen die Politik in der früheren jugoslawischen Teilrepublik. 2006 führte er sie in die Unabhängigkeit, 2017 in die Nato. Seit 2012 verhandelt das Land mit 600.000 Einwohnern über einen Beitritt zur Europäischen Union. Zugleich warfen Kritiker dem Langzeitherrscher Korruption und Nähe zum organisierten Verbrechen vor.
Sein Machtverlust begann 2020, als seine DPS und ihre Partner bei Wahlen erstmals die Parlamentsmehrheit verfehlten. Die nachfolgenden mehrheitlich pro-serbischen Regierungen erwiesen sich als instabil, weshalb es nun zu den vorgezogenen Wahlen kam. Die letzte dieser Regierungen unter Ministerpräsident Dritan Abazovic ist seit neun Monaten nur geschäftsführend im Amt, nachdem ihr das Parlament das Vertrauen entzogen hat.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft erneut ein Schlaglicht auf die strategische Bedeutung des Balkans - und auf das an der Adria gelegene Montenegro. Das benachbarte und viel größere Serbien trägt die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mit und hält wirtschaftlich und ideologisch an seiner Nähe zu Moskau fest. Zugleich strebt es danach, über die serbisch-orthodoxe Kirche und pro-serbische Parteien seinen Einfluss in Montenegro auszudehnen.
Pro-westlicher Kurs unter Djukanovic
Unter Djukanovic verfolgte das Land einen klar pro-westlichen Kurs. Im Oktober 2016, im Jahr vor dem Nato-Beitritt, scheiterte ein Putsch serbischer Nationalisten, der von russischen Geheimdienstleuten koordiniert worden war. Die »Europa Jetzt!«-Gründer Milatovic und Spajic genossen ursprünglich das Vertrauen der serbisch-orthodoxen Kirche, die die meisten Gläubigen in Montenegro hat. Nach dem Sieg bei der Präsidentschaftswahl kamen aber von der neuen Partei relativ deutliche Signale, den pro-westlichen Kurs beibehalten zu wollen.
Die Wahllokale sollten um 20.00 Uhr schließen. Mit ersten Ergebnissen wurde am späten Sonntagabend gerechnet.
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