Mini-Löhne für Gefangene sind verfassungswidrig, wenn dahinter kein wirksames Konzept zur Resozialisierung der Betroffenen steht. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Zwei Häftlinge aus Bayern und Nordrhein-Westfalen hatten gegen ihre geringe Bezahlung geklagt. Gefangene müssten Sinn und Nutzen von Arbeit erkennen, sagte die Vorsitzende des Zweiten Senats, Doris König, in Karlsruhe.
Arbeit hinter Gittern ist in den meisten Bundesländern Pflicht und soll der Resozialisierung dienen, also der Wiedereingliederung von Menschen in die Gesellschaft. Die Kläger etwa arbeiteten in der anstaltseigenen Druckerei und als Kabelzerleger in einem Betrieb.
Laut König lag der Stundenlohn für Strafgefangene zuletzt zwischen 1,37 Euro und 2,30 Euro - je nach Qualifikation. Von dem Geld müssen manche unter anderem Familienangehörige unterstützen, Opfern Wiedergutmachung leisten oder Schulden tilgen.
Die Ziele der Resozialisierung müssten mit dem Geld tatsächlich erreicht werden können, sagte König, die auch Vizepräsidentin des höchsten deutschen Gerichts ist. »Mit anderen Worten: Die Erreichung der gesetzlich festgelegten Zwecke darf angesichts der geringen Entlohnung von Gefangenenarbeit nicht unrealistisch sein.« Die Menschen dürften nicht das Gefühl bekommen, zu »Objekten staatlicher Gewalt degradiert« zu werden, hieß es. Resozialisierung als Ziel von Strafvollzug folge unter anderem aus dem Schutz der Menschenwürde.
Es braucht ein schlüssiges Konzept
Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil fest, dass hinter den Löhnen ein schlüssiges Konzept stehen müsse. »Den Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille zu eigenverantwortlicher Lebensführung vermittelt werden«, sagte König.
Der Staat müsse dafür einen Resozialisierungsplan entwickeln und personelle sowie finanzielle Mittel bereitstellen. Bei einer Neuregelung könne der Gesetzgeber auch einen Teil des Arbeitsentgelts für bestimmte Zwecke einbehalten oder Gefangene an Kosten im Vollzug beteiligen - beispielsweise über eine Stromkostenpauschale.
Wenn Arbeit als eine Maßnahme zur Resozialisierung vorgesehen ist, muss eine angemessene Anerkennung aus Sicht des Gerichts nicht zwingend in Form von Geld erfolgen. Stattdessen seien beispielsweise Freistellungstage möglich, die sich Gefangene erarbeiten können.
Außerdem könnten sie in den Schutz sozialer Sicherungssysteme eingebunden werden oder Hilfen zur Schuldentilgung erhalten. »Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, Gefangene in die Rentenversicherung oder andere soziale Sicherungssysteme einzubeziehen, besteht allerdings nicht«, betonte König.
Wie hoch soll der Lohn sein?
Der Gesetzgeber sei nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt, hieß es seitens des Gerichts. Es sei auch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, ein bestimmtes Entlohnungsmodell vorzugeben. Deshalb legte es sich auch nicht auf einen Stundenlohn fest, der Gefangenen mindestens gezahlt werden muss.
»Wir hoffen natürlich, dass wir hier im Zuge der zu erstellenden Resozialisierungskonzepte einen höheren Sprung nach oben sehen, was die Vergütung angeht«, sagte der Sprecher der Gefangenengewerkschaft, Manuel Matzke. Etwa fünf bis sieben Euro pro Stunde stelle er sich vor. »Aktuell sind wir einfach auf dem Stand, dass vermittelt wird, dass ehrliche Arbeit sich nicht auszahlt. Und so kann niemand resozialisiert werden.« Grundsätzlich fordert die Gefangenengewerkschaft, dass Häftlinge den Mindestlohn erhalten.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist dafür, dass sich die Löhne hinter Gittern am Mindestlohn orientieren. »Denn die Gefangenen produzieren im Rahmen ihrer Resozialisierung oft für den Markt«, teilte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell mit. »Auftraggeber sind meist große marktbeherrschende Unternehmen, denen es nach diesem Urteil nun nicht mehr möglich ist, zu Dumpinglöhnen in Gefängnissen für ihre hochpreisigen Produkte arbeiten zu lassen.«
Sowohl DGB als auch die Gefangenengewerkschaft kritisieren, dass Gefangene bisher nicht in die Rentenversicherung einbezogen werden. Durch fehlende Sozialversicherungsbeiträge drohe ihnen Altersarmut.
Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen müssen die jeweiligen Gesetze nun bis spätestens Ende Juni 2025 nachbessern. Bis das geschehen ist, gelten die bisherigen Regelungen.
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) kündigte eine Neuregelung der Gefangenenvergütung an. Das bayerische Justizministerium nannte die Thematik »komplex« und teilte mit, die Auswirkungen für den bayerischen Justizvollzug eingehend zu prüfen. Prinzipiell sind die Vorgaben des Verfassungsgerichts aber so allgemein formuliert, dass sich auch andere Bundesländer ihre Gesetze anschauen dürften.
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