Nach der tödlichen Messerattacke von Solingen bietet Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine gemeinsame Neuausrichtung der Migrationspolitik an - notfalls auch ohne die Ampel-Partner Grüne und FDP. »Wenn wir uns zusammenraufen, Union und SPD, dann brauchen wir weder die FDP noch die Grünen, um entsprechende gesetzliche Änderungen zu vollziehen«, sagte er nach einem gut einstündigen Treffen mit Scholz in Berlin.
Merz' Vorschlag kommt der Forderung nach einem Koalitionsbruch gleich. Im Koalitionsvertrag von 2021 heißt es zur Zusammenarbeit der drei Ampel-Partner: »Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.«
Nur bei ethischen Fragen wie der Sterbehilfe wird in der Regel vereinbart, den Fraktionszwang aufzuheben. In einer zentralen politischen Frage wie der Migrationspolitik dürften sich Grüne und FDP darauf kaum einlassen.
»Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das eigene Land«
Merz verwies auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers und betonte, dass SPD und Union gemeinsam 403 der 733 Bundestagsabgeordneten stellten und damit eine deutliche absolute Mehrheit im Parlament hätten. »Das ist hier ausdrücklich nicht die Bitte um Aufnahme in eine Koalition. Wir wollen hier nicht Teil der Regierung werden«, betonte Merz. Es bestehe aber dringender Handlungsbedarf ohne Tabus. »Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das eigene Land. Er verliert das Vertrauen.«
Scholz ließ sich nach Angaben des CDU-Chefs in dem Gespräch nicht auf den Vorstoß ein. »Er hat spontan keine Zustimmung geäußert«, sagte Merz. Er gehe aber davon aus, dass er »innerhalb weniger Tage« eine Rückmeldung bekommen werde. Die Gespräche in kleiner Runde hätten »heute Nachmittag bereits beginnen können. Aber wenn es denn ein oder zwei Tage später stattfindet, ist es auch in Ordnung.«
Scholz: Zusammenarbeit: ja - aber »nicht quer durcheinander«
In einer ersten öffentlichen Reaktion begrüßte Scholz bei einer Wahlkampfveranstaltung in Thüringen zwar das Gesprächsangebot des CDU-Chefs, machte aber auch deutlich, dass er von wechselnden Mehrheiten für einen Migrationspakt nichts hält. »Die Regierung und die Opposition sind immer gut gehalten zusammenzuarbeiten«, sagte er, fügte dann aber noch hinzu: »Nicht quer durcheinander, sondern miteinander.«
Trotzdem sei es richtig, "wenn auch der Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Zusammenarbeit anbietet" bei der Reduzierung der irregulären Migration". Scholz verwies aber auf die rechtlichen Grenzen, die es gebe: "Es gelten unsere internationalen Verträge. Es gelten die Regeln der Europäischen Union. Es gilt das, was unser Grundgesetz uns vorschreibt. Und dann sind viele praktische Vorschläge willkommen."
Merz mit Krawatte rein - und ohne wieder raus
Scholz und Merz hatten am Morgen gut eine Stunde im Kanzleramt miteinander gesprochen. Um kurz vor 9 Uhr traf der CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag mit seiner Limousine im Kanzleramt ein. Da hatte er noch eine Krawatte an. Die war weg, als er gegen 10.15 Uhr die Regierungszentrale wieder verließ. Merz begründet dies mit dem Frühstück, dass er gemeinsam mit dem Kanzler eingenommen hatte. »Wir haben nicht nur gut miteinander gesprochen, sondern auch gefrühstückt. Und deswegen habe ich zum Schutz meiner Krawatte die Krawatte abgelegt«, sagte der CDU-Chef.
Merz sprach anschließend von einem »atmosphärisch sehr guten Gespräch«. Er hatte allerdings schon vorher massiven Druck aufgebaut. Unter der Überschrift »Es reicht!« forderte er bereits am Sonntag eine Wende in der Migrationspolitik und legte am Montag bei einem Wahlkampfauftritt in Dresden noch einmal nach. »Wir wollen nicht mehr und nicht weniger, als dass der Bundeskanzler seinem Amtseid nachkommt und Schaden vom deutschen Volk abwendet.«
Merz schlägt Migrations-Beauftragte von Union und Regierung vor
Bei seinem Gespräch mit Scholz regte Merz die Einsetzung von Beauftragten von Regierung und Union an, um die rechtlichen Möglichkeiten einer Neuausrichtung der Migrationspolitik auszuloten. Für die Unionsfraktion will Merz den Parlamentarischen Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) in die Runde schicken.
Außerdem machte der Fraktionschef konkrete Vorschläge, um am besten bereits in der ersten Bundestags-Sitzungswoche Mitte September Gesetzesänderungen auf den Weg zu bringen. In der betreffenden Woche soll eigentlich ausschließlich über den Haushalt für 2025 diskutiert werden. Nach dem Vorschlag von Merz solle davon ein halber Tag abgezweigt werden, um zu klären, auf welche Änderungen in der Migrationspolitik man sich verständigen könne.
Konkret fordert die Union, abgelehnte Asylbewerber grundsätzlich wieder nach Syrien und Afghanistan abzuschieben. Wer als Flüchtling aus Deutschland in sein Heimatland reist, soll in Deutschland umgehend jeden Aufenthaltsstatus verlieren. Es soll dauerhafte Kontrollen an den EU-Außengrenzen geben und mehr Kompetenzen für die Bundespolizei. Zudem bringt Merz die Erklärung einer »nationale Notlage« ins Spiel, um EU-Recht auszuhebeln und eine Zurückweisung von Migranten zu erreichen, die zuerst in ein anderes EU-Land eingereist sind.
Wenig Chancen für informelle große Koalition
Inwieweit die grundsätzliche Bereitschaft einer Zusammenarbeit in konkrete Ergebnisse mündet, wird sich aber wohl erst nach den Landtagsahlen in Sachsen und Thüringen an diesem Sonntag zeigen. Sollte der Versuch einer Kooperation scheitern, wäre das nicht das erste Mal.
Scholz und Merz hatten bereits im vergangenen Herbst vor einem Migrations-Gipfel von Bund und Ländern Gespräche zum Thema Migration geführt. Mit dem anschließend von Scholz und den Ministerpräsidenten beschlossenen Maßnahmenpaket zeigte sich der CDU/CSU-Fraktionschef dann aber unzufrieden und erteilte einer weiteren Zusammenarbeit eine Absage. Auch damals ging es um die Einsetzung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Regierung und Union zur Steuerung der Zuwanderung, die Scholz nicht wollte. »Damit ist das Thema Deutschlandpakt zum Thema Migration aus meiner Sicht erledigt«, sagte Merz Anfang November.
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