Logo
Aktuell Ausland

Machtkampf im Irak: Demonstranten besetzen Parlament

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage stürmen Demonstranten das Parlament in Bagdad. In dem Machtkampf geht es diesmal um einen neuen Premier und eine neue Regierung.

Nationalflaggen
Irakische Demonstranten posieren mit Nationalflaggen und Bildern des schiitischen Geistlichen Al-Sadr vor dem Parlamentsgebäude. Foto: Anmar Khalil
Irakische Demonstranten posieren mit Nationalflaggen und Bildern des schiitischen Geistlichen Al-Sadr vor dem Parlamentsgebäude.
Foto: Anmar Khalil

Im Irak ist mit der Stürmung des Parlaments ein alter Machtkampf zwischen den politischen Eliten entbrannt. Innerhalb weniger Tage besetzten am Samstag vor allem Anhänger des einflussreichen schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Bagdad. Mit einem Sitzstreik wollen die Demonstranten Druck auf die Politik ausüben. Alle weiteren Sitzungen des Parlaments wurden zunächst abgesagt, wie der Parlamentspräsident mitteilte.

Am Sonntag strömten viele weitere Demonstranten in die Hochsicherheitszone in Bagdad. Hunderte Anhänger al-Sadrs trafen aus weiteren Landesteilen an, wie Augenzeugen berichteten. Unterdessen wurden immer mehr Sicherheitskräfte in der hoch gesicherten Grünen Zone stationiert.

Mit den Protesten will die Al-Sadr-Bewegung verhindern, dass ihre politischen Gegner um Ex-Regierungschef Nuri al-Maliki eine Regierung bilden können. Die Rivalen des 47 Jahre alten Religionsführers hatten vor kurzem einen eigenen Kandidaten als Premier vorgestellt. Aus Sicht Al-Sadrs steht aber der für das Amt vorgesehene ehemalige Minister Mohammed Schia al-Sudani dem Ex-Premier Al-Maliki viel zu nahe. Al-Sadr und Al-Maliki sind verfeindet. Außerdem sympathisieren Al-Maliki und dessen Allianz offen mit dem Nachbarland Iran. Al-Sadr wiederum möchte den Einfluss der Führung in Teheran zurückdrängen.

Land in Pattsituation

Fast zehn Monate nach der Parlamentswahl befindet sich das ölreiche Land in einer Pattsituation. Al-Sadrs Bewegung ging damals als klarer Wahlsieger hervor, konnte jedoch nicht die wichtige Zweidrittelmehrheit erreichen, die für die Präsidentenwahl erforderlich ist. Erst mit dessen Unterstützung kann eine neue Regierung gebildet werden. Al-Sadrs Vorgehen wäre jedoch ein Bruch mit den politischen Traditionen gewesen. Bisher wurde das Amt von einem Kurden ausgeübt, der Premier war immer ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit. Al-Sadrs Traditionsbruch stieß auf Gegenwehr, weil einige um Macht und Einfluss fürchteten. Wegen der Blockade im Parlament traten Abgeordnete der Sadr-Strömung geschlossen zurück - ein Schritt, der Beobachter auch verwunderte.

In einer Botschaft am Sonntag bezeichnete al-Sadr die Proteste als »spontane, friedliche Revolution«. Er forderte breite Unterstützung, insbesondere von den irakischen Stämmen und Sicherheitskräften. »Dies ist eine großartige Gelegenheit, einen radikalen Wandel im politischen System herbeizuführen«, schrieb er auf Twitter.

Der geschäftsführende Premierminister Mustafa al-Kasimi rief die politischen Lager erneut zum Dialog auf. »Ich appelliere an alle, Ruhe, Vernunft und Geduld walten zu lassen und sich nicht zur Machtprobe hinreißen zu lassen«, so der Premier. »Tausend Tage stiller Dialog sind besser als eine Minute, in der ein Tropfen irakisches Blut vergossen wird.«

Sturm auf das Parlament zurückgedrängt

Kurz zuvor hatten Sicherheitskräfte an der hoch gesicherten Grünen Zone noch versucht, Demonstranten mit Tränengas zurückzudrängen. Nach Behördenangaben gab es dabei mindestens 125 Verletzte. In der rund zehn Quadratkilometer großen Zone im Zentrum Bagdads befinden sich zahlreiche Regierungsgebäude, das Parlament sowie mehrere Botschaften, darunter auch die diplomatische Vertretung der USA. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie sich überwiegend junge Menschen im Plenarsaal aufhielten und Fotos von Al-Sadr in die Kameras hielten.

Das Bündnis um Al-Maliki protestierte scharf gegen den Sitzstreik: »Der Staat, seine Legitimität, die verfassungsmäßigen Institutionen und der staatsbürgerliche Friede stehen auf dem Spiel«, hieß es in einer Mitteilung.

Beide schiitischen Lager - also das von Al-Sadr sowie das von Al-Maliki - betrachten sich als Gegner. Der 72 Jahre alte Al-Maliki war nach dem Sturz von Langzeitdiktator Saddam Hussein von 2006 bis 2014 Regierungschef im Irak. Kritiker werfen ihm unter anderem vor, wegen schlechter Regierungsführung für den Erfolg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich zu sein.

Der 47 Jahre alte Al-Sadr gilt als kontroverse Figur. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im April 2003 bekämpfte seine Mahdi-Armee die US-Truppen. Heute gibt er sich gemäßigter und tritt als eine Mischung aus Nationalist und Populist auf. Seine Anhänger leben vor allem in den ärmeren Vierteln Bagdads und anderer Städte. Experten zufolge liegt Al-Sadrs Stärke insbesondere darin, Menschenmassen mobilisieren zu können. Der Rückzug seiner Anhänger aus dem Parlament wurde daher auch als Schachzug gedeutet, um Parteien weiter unter den »Druck der Straße« zu setzen und einen Sieg der Allianz um Al-Maliki zu verhindern.

Gefährliche Situation

Der Sicherheitsexperte Ahmed al-Scherifi hält die Situation für gefährlich, da beide schiitischen Lager auch über bewaffnete Kräfte verfügen. »Die derzeitige irakische Regierung hat es versäumt, eine wichtige Rolle bei der Überwindung des politischen Stillstands und der Entflechtung der verfeindeten Kräfte zu spielen.«

In einem Artikel für die Denkfabrik Carnegie beschreibt der Experte Massaab Al-Aloosy die vielseitigen Probleme des Landes, darunter hohe Jugendarbeitslosigkeit, einen aufgeblähten Beamtenstaat sowie die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Öl. »Es fehlt eine verantwortungsbewusste politische Elite, die bereit ist, ihre Differenzen zugunsten des öffentlichen Interesses beizulegen.«

Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober 2021 folgten auf Demonstrationen im Irak zwei Jahre zuvor, die sich unter anderem gegen die Korruption sowie die schlechte Wirtschaftslage und Infrastruktur richteten. In dem Land sind Zellen der IS-Terrormiliz weiter aktiv. Die Extremisten überrannten 2014 große Gebiete im Norden und Westen des Landes. Die Wahlbeteiligung fiel im Oktober auf ein Rekordtief von rund 41 Prozent.

Viele Iraker haben kaum noch Vertrauen in die Politik. Sie kritisieren vor allem die weit verbreitete Korruption. Im Parlament protestieren aber auch Menschen, die wegen des politischen Stillstands verärgert sind - in wirtschaftlich schlechten Zeiten mit steigenden Preisen.

© dpa-infocom, dpa:220731-99-222429/6