Blockierte Schulen, leere Schienen und Hunderttausende auf den Straßen: Schon seit Wochen hält der Kampf um die Rentenreform Frankreich in Atem. Auch am Wochenende machten die Gewerkschaften mit Protesten und Streiks wieder Druck. Der Senat stimmte dem Vorhaben nach hitziger Debatte in der Nacht zum Sonntag in erster Lesung zu. Einer bleibt bei all dem auffällig ruhig: Präsident Emmanuel Macron.
Zentraler Punkt des Streits ist der Kern der Reform: Frankreichs Mitte-Regierung will das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben, um das drohende Loch in der Rentenkasse zu stopfen. Auch derzeit beginnt der Ruhestand im Schnitt später als mit 62. Wer für eine volle Rente nicht lang genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag - dies will die Regierung beibehalten, auch wenn die Zahl der Einzahljahre für eine volle Rente schneller steigen soll.
Die Gewerkschaften nennen das Vorhaben brutal und ungerecht. Am Dienstag - dem bisherigen Höhepunkt der Proteste - mobilisierten sie nach eigenen Angaben 3,5 Millionen Menschen. Das Innenministerium sprach von mehr als einer Million. Auch am Samstag waren in verschiedenen Städten laut Ministerium wieder Hunderttausende auf den Straßen, die Gewerkschaft CGT sprach von einer Million Menschen.
Mehrheit der Franzosen lehnt die Reform ab
Tatsächlich lehnt die Mehrheit der Französinnen und Franzosen die Reform ab - auch, um im Alter mehr vom Leben zu haben. Gleichzeitig sind die meisten überzeugt: Die Reform wird kommen. Dennoch gehen sie auf die Straße - wohl auch, weil soziale Bewegungen in Frankreich immer wieder Erfolg hatten.
Auch im Rentenstreit gibt es erste Erfolge. Angesichts der Massenproteste stehen selbst innerhalb der Macron-Partei Renaissance nicht alle geschlossen hinter dem Vorhaben. Fraktionschefin Aurore Bergé drohte jüngst mit Ausschluss aus der Fraktion, sollten sich Abgeordnete enthalten oder gar wagen, gegen die Reform zu stimmen.
Noch bevor die Regierung ihren Reformplan vorlegte, hatte Premierministerin Élisabeth Borne sich mit Vertretern von Gewerkschaften und Opposition getroffen. Ein Kompromiss blieb aus. Als einzigen Partner an ihrer Seite sieht die Regierung, die in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit hat, die konservativen Républicains.
Eine unbequeme Situation - denn die bürgerliche Rechte versucht aus ihrer Machtposition, der Rentenreform einen eigenen Anstrich zu verpassen. So haben sie im Senat eine Regelung zur Beschäftigung älterer Menschen durchgebracht, die die Regierung lieber nicht umgesetzt sehen wollte. Dazu kommt, dass weiter unklar ist, ob in der Nationalversammlung ausreichend Républicains für die Reform stimmen.
Die Gewerkschaften wollen direkt mit Macron reden
Macron hält sich bedeckt - obwohl er das höhere Eintrittsalter im Wahlkampf selbst angekündigt hatte. Die Kämpfe lässt er Borne und Arbeitsminister Olivier Dussopt ausfechten. Die Gewerkschaften aber wollen Monsieur le Président persönlich zur Verantwortung ziehen und direkt mit ihm reden. Sein Schweigen sei ein »schwerwiegendes demokratisches Problem«. Macron sitzt solche Kritik aus, antwortet per Brief, lädt aber nicht zum Gespräch. Möglicherweise, weil er kein Öl ins Feuer gießen will. Vielleicht auch, um nicht selbst angesengt zu werden.
Die Regierung hofft, dass der Streit bald zu Ende ist. Am Mittwoch soll eine Kommission einen Kompromiss zwischen den beiden Parlamentskammern Senat und Nationalversammlung suchen. Das Parlament hat bis zum 26. März Zeit, über das Vorhaben zu entscheiden. Die Regierung verspricht sich, dass sobald die Reform angenommen ist, auf der Straße wieder weitgehend Ruhe herrscht. Die gemäßigteren Gewerkschaften dürften den Protest dann aus Respekt vor dem Gesetzgebungsverfahren einstellen. Radikalere Gruppen könnten mit Streiks bei der Bahn oder in Raffinerien weitermachen.
Für Macron und seine Regierung hängt mehr an der Reform als bloß die Rettung der Rentenkasse. Für sie ist es ein politischer Streit, den sie gewinnen müssen, um nicht das Gesicht zu verlieren. Zwar könnte die Reform auch einfach angeordnet werden, sollte sie im Parlament scheitern. Doch Macrons Autorität geriete ins Wanken. Das wäre ein Debakel, liegen doch noch vier Jahre Amtszeit vor ihm.
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