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Liz Truss wird Nachfolgerin von Premier Boris Johnson

Aus dem Außenministerium in die Downing Street: Liz Truss ist in kurzer Zeit ein gewaltiger politischer Sprung gelungen. Die Herausforderungen sind gewaltig. Hat die 47-Jährige dafür die nötige Rückendeckung?

Liz Truss
Liz Truss wird neue Regierungschefin - und steht von Tag eins vor schweren Aufgaben. Foto: Kirsty Wigglesworth
Liz Truss wird neue Regierungschefin - und steht von Tag eins vor schweren Aufgaben.
Foto: Kirsty Wigglesworth

Mit der künftigen Premierministerin Liz Truss will die britische Konservative Partei die skandalumwitterten Jahre unter Boris Johnson abschütteln. Die 47-Jährige kündigte am Montag unter dem Jubel von Abgeordneten und Parteimitgliedern an, die Partei zum Sieg bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl zu führen.

Doch direkt nach ihrer Wahl zur neuen Parteivorsitzenden und damit auch designierten Regierungschefin werden Zweifel laut, ob Truss sich an der Spitze behaupten kann. Denn der früheren Brexit-Gegnerin, längst eine lautstarke Befürworterin des EU-Austritts, fehlt eine Hausmacht.

An diesem Dienstag wird Truss von Queen Elizabeth II. zur Premierministerin ernannt, danach zieht sie in die Downing Street ein. Doch von einem triumphalen Empfang für die bisherige Außenministerin ist keine Rede. Seit einer Änderung der parteiinternen Wahlregeln erhielt ein Sieger nie weniger als 60 Prozent der abgegebenen Stimmen - Truss kam nun auf nur 57 Prozent. Insgesamt stimmten 81.326 Parteimitglieder für sie, rund 0,17 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Der Abstand zum Rivalen Rishi Sunak, der gut 60.000 Stimmen erhielt, fiel kleiner aus als erwartet.

Truss fehlt »überwältigendes Mandat ihrer Partei«

»Das Ergebnis bedeutet, dass Truss die Wirtschaftskrise ohne überwältigendes Mandat ihrer Partei bewältigen muss«, sagte der Politologe und Autor Mark Garnett der Deutschen Presse-Agentur. »Ihre Position wird wahrscheinlich innerhalb von Monaten in Gefahr geraten, wenn sich die Aussichten für Großbritannien und die Konservativen nicht dramatisch verbessern.«

Erstmals habe die Parteibasis einen anderen Kandidaten gewählt als die Fraktion, zitierte »Politico« einen Staatssekretär. Dort hatte Ex-Finanzminister Sunak mehr Unterstützung.

Zwar riefen politische Schwergewichte wie der scheidende Premier Johnson und auch Sunak die Partei umgehend auf, sich hinter Truss zu sammeln. Doch die tat bei ihrem ersten Auftritt wenig, um Aufbruchstimmung zu verbreiten. Die kurze Siegesrede sei »überraschend schlecht« gewesen, hölzern und langweilig, urteilte die Zeitung »Guardian«. »Abgesehen davon, dass sie die nächste Parlamentswahl für 2024 erwartet, sagte sie nichts Denkwürdiges.«

Vierte Premierministerin in sechs Jahren

Die Mitglieder hoffen dennoch auf eine Kehrtwende, die Partei hat die ständigen Wechsel satt. Truss wird bereits die vierte Premierministerin in sechs Jahren sein. Im Wahlkampf präsentierte sie sich als Vertreterin des rechten Parteiflügels. Truss versprach radikale Steuersenkungen und will an dem international kritisierten Vorhaben festhalten, illegal eingereiste Migranten ungeachtet ihres Hintergrunds auf Dauer ins ostafrikanische Ruanda abzuschieben.

Geradezu demonstrativ erhoben sich die Mitglieder nach den ersten Worten der neuen Parteichefin zu »Standing Ovations«. Doch die neue Hoffnungsträgerin kann sich nicht lange feiern lassen, zu lang ist die To-Do-Liste. »Riesig« sei das Postfach, das Truss nun übernehme, sagte Baroness Emma Pidding, die für die Tories im Oberhaus sitzt, der dpa. Der »Independent«-Reporter Andrew Woodcock twitterte: »Die meisten neuen Premierminister erhalten eine Zeit der Flitterwochen - sie tritt mitten in einen Hurrikan.«

Schwere, teure Aufgaben

Vor allem die steigenden Energiekosten sorgen bei den Verbrauchern für Existenzängste. Truss kündigte in ihrer ersten Rede schnelle Maßnahmen zur Abfederung der explodierenden Strom- und Gaspreise an. Wie die Zeitungen »Times« und »Telegraph« berichteten, erwägt sie, die Kosten auf dem aktuellen Stand einzufrieren. Das würde Dutzende Milliarden Pfund kosten und den Schuldenberg weiter erhöhen. Denn Truss hat angekündigt, sofort Steuern zu senken. Um die Gesundheitskrise zu meistern, in der Millionen Briten auf eine Behandlung oder Operation warten, wird ebenfalls viel Geld fällig - ganz zu schweigen von einem geplanten üppigen Verteidigungsbudget.

Außenpolitisch dürfte Truss die Unterstützung der Ukraine fortsetzen. Schwieriger dürfte es im Verhältnis mit der EU werden, mit der Großbritannien über Brexit-Sonderregeln für Nordirland streitet. Befürchtet wird ein Handelskrieg, falls Truss wie erwartet eine rechtlich bindende Vereinbarung aufkündigt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mahnte in ihrem Gratulations-Tweet deshalb zur Einhaltung internationaler Abkommen. Bundeskanzler Olaf Scholz twitterte: »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit in diesen herausfordernden Zeiten. Das Vereinigte Königreich und Deutschland werden weiterhin eng kooperieren - als Verbündete und Freunde.«

Johnson geht - und bleibt doch

Amtsinhaber Johnson war Anfang Juli nach mehreren Skandalen wie der »Partygate«-Affäre um Lockdown-Partys im Regierungssitz zurückgetreten. Der 58-Jährige ist aber in der Partei weiterhin sehr beliebt und gilt vielen Mitgliedern als einziger Kandidat, der die Parlamentswahl gewinnen kann. Derzeit führt die oppositionelle Labour-Partei in Umfragen deutlich. Vertraute streuen bereits, dass ein Comeback Johnsons keinesfalls ausgeschlossen sei. Als einfacher Abgeordneter bleibt der Populist zunächst Mitglied des Parlaments.

Dass nun zunächst der Tag des Abschieds von Johnson gekommen ist, entfachte bei seinen Gegnern keine Begeisterung. Vor dem Londoner Kongressgebäude, in dem das Wahlergebnis bekanntgegeben wurde, versammelten sich einige Dutzend altbekannte Anti-Brexit-Demonstranten. Während der »Partygate«-Affäre schallte ihr »Bye, bye Boris«-Gesang durch das Londoner Regierungsviertel. Nun tönten Zeilen eines Songs der Band Tears for Fears über den Platz. »When people run in circles, it's a very, very mad world«, bedeutet auf Deutsch so viel wie »Wenn Leute im Kreis laufen, ist das eine sehr, sehr verrückte Welt.« Eine gravierend andere Politik als unter Johnson erwarten die Demonstranten nach dem Neubeginn nicht.

© dpa-infocom, dpa:220904-99-631882/13