Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vor »Umdeutungen« bei der Bewertung von Corona-Schutzmaßnahmen gewarnt. Deutschland sei jetzt technisch viel besser für mögliche nächste Pandemien gerüstet, machte der SPD-Politiker im »Spiegel« deutlich. »Aber kommunikativ und politisch sind wir wegen all der Verharmloser und «Querdenker» schlechter vorbereitet, als wir es vor Corona waren. Deshalb ist umso wichtiger, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht nachträglich umgedeutet werden.«
Lauterbach sagte, ein »Verdrehen von Tatsachen« habe in der Pandemie erheblichen Schaden ausgelöst. »Ohne Desinformationskampagne einiger Medien, Parteien, «Querdenker» und Wissenschaftler hätten wir eine deutlich höhere Impfquote bei den Älteren gehabt. Weniger Tote waren möglich.«
Der Berliner Virologe Christian Drosten sagte dem »Spiegel« in dem Doppelinterview mit Lauterbach, es gehe inzwischen um »eine handfeste Umdeutung«. Er verwies etwa auf »eines der beliebten Narrative«, dass es nie sinnvoll gewesen sei, Schulen zu schließen. »Ich denke mir immer: Wie abwertend ist das den vielen Leuten gegenüber, die von Anfang an versucht haben, sich zu informieren und verantwortlich zu handeln? Die gesagt haben: Ich bleibe mit meinem Kind zu Hause, ich mache meine Kneipe zu?« So sei es auch mit der Diskussion darüber, ob die Maskenpflicht nötig gewesen sei. »Natürlich war die notwendig.«
»Das sind Exzesse gewesen«
Zuvor hatte Lauterbach erneut Fehler bei der Bekämpfung der Pandemie kritisiert. »Was Schwachsinn gewesen ist, wenn ich so frei sprechen darf, sind diese Regeln draußen«, sagte er in der ZDF-Sendung »Markus Lanz« am Donnerstagabend. Er bezog sich etwa auf das zeitweise ausgesprochene Verbot, ohne Maske joggen zu gehen. »Das ist natürlich klar, das sind Exzesse gewesen«, sagte Lauterbach, der seit Dezember 2021 Gesundheitsminister ist. Die Länder hätten massiv überreizt, insbesondere Bayern. Auch die langen Kita- und Schulschließungen seien ein Fehler gewesen.
Trotzdem fiel Lauterbachs Bilanz knapp drei Jahre nach Beginn der Pandemie insgesamt positiv aus. »Wir sind gut durchgekommen.« Dank des vorsichtigen Vorgehens sei die Sterblichkeit in Deutschland trotz der alten Bevölkerung niedriger gewesen als in anderen Ländern. Bislang seien rund 180.000 Menschen in Deutschland an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. »Das ist keine schlechte Zahl, aber wir wären noch besser gewesen, wenn es nicht diese ständige Politisierung der Maßnahmen gegeben hätte«, sagte er.
Kubicki fordert Rücktritt
Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) wies Lauterbachs Kritik zurück. Bayerns Corona-Kurs sei zwar konsequent gewesen, aber man habe mit Augenmaß auf neue Entwicklungen reagiert und Freiheiten ermöglicht. »Lauterbach müsste eigentlich wissen, dass Bayern in wichtigen Bereichen Vorbild war«, sagte Holetschek am Freitag. Das Land habe frühzeitig damit begonnen, an Schulen zu testen, um Präsenzunterricht gewährleisten zu können.
FDP-Vize Wolfgang Kubicki legt Lauterbach gar einen Rücktritt nahe. »Einen ehrenvollen Rücktritt würde Karl Lauterbach niemand vorwerfen«, schrieb Kubicki am Freitag auf seiner Facebook-Seite. In dem Eintrag kritisierte der stellvertretende Bundestagspräsident die Corona-Politik der vergangenen drei Jahre scharf. »Karl Lauterbach war einer derjenigen, die daran mitgewirkt haben, kritische wissenschaftliche Stimmen auszugrenzen, Panik selbst zu schüren und die Grenzen des Verfassungsstaates zu verschieben«, schreibt Kubicki weiter. »Wenn er meint, jetzt mit einer «Schwamm-drüber-Mentalität» zur Tagesordnung übergehen zu können, dann wäre das für den demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Aufarbeitungsprozess fatal.«
SPD: Kubicki mit »Kotau vor Querdenkern und Corona-Leugnern«
Daran wiederum gab es Kritik aus der SPD: Die Vizechefin der Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt, nannte es »absolut inakzeptabel«, einen Minister aus der eigenen Koalition zum Rücktritt aufzufordern, weil dieser »in der seriösen Nachbetrachtung der Pandemie« Fehler benenne und Konsequenzen ziehe. »Unsere Geduld mit Herrn Kubickis irrlichternden Kommentaren zur Corona-Politik und Pandemie-Bekämpfung war ohnehin arg strapaziert«, sagte Schmidt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Bereits im Dezember hatte Kubicki gesagt, er gehe nicht davon aus, dass Lauterbach die ganze Legislaturperiode über im Amt bleibe.
Lauterbach tue gerade alles, »um strukturelle Probleme des Gesundheitssystems und Verbesserungen gerade bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen umzusetzen«, so die SPD-Abgeordnete. Derzeit arbeitet das Gesundheitsressort etwa an einer umfassenden Klinikreform. »Ich erwarte ein deutliches Wort von Herrn Lindner und damit ein klares Signal von Seiten der FDP, dass sie sich noch in der Lage sieht, Herrn Kubicki in die gemeinsame Regierungsverantwortung einzuordnen«, so Schmidt.
»Ein solcher Kotau vor den Querdenkern und Corona-Leugnern kurz vor der Berlin-Wahl ist wohl kaum Zufall«, sagte die Politikerin an die Adresse Kubickis. Zugleich sagte Schmidt, die Koalition widme sich auf Fachebene einer ernsthaften und seriösen Betrachtung der Pandemie. »Am Ende werden wir erkennen, dass Deutschland vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen ist.«
© dpa-infocom, dpa:230210-99-544655/6