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Lage im Ukraine-Krieg: Moskau will weitere Gebiete einnehmen

Präsident Selenskyj sagt, Russland teste in seinem Land Waffen für den Einsatz in anderen Ländern. Putins Außenminister Lawrow kündigt die Besetzung weiterer ukrainischer Gebiete an. Die Entwicklungen.

Sergej Lawrow
»Es geht auch um eine Reihe anderer Territorien«: Sergej Lawrow. Foto: Britta Pedersen
»Es geht auch um eine Reihe anderer Territorien«: Sergej Lawrow.
Foto: Britta Pedersen

Russland nutzt die Ukraine nach Aussage ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Testfeld für mögliche weitere Angriffe gegen andere europäische Staaten. »Russland testet in der Ukraine alles, was gegen andere europäische Länder eingesetzt werden kann«, sagte Selenskyj in seiner nächtlichen Videoansprache. »Es fing mit Gaskriegen an und endete mit einer groß angelegten Invasion, mit Raketenterror und niedergebrannten ukrainischen Städten.«

Die Ukraine müsse Russland auch deshalb besiegen, damit andere Länder sicher seien, sagte Selenskyj. »Je schneller dies geschieht, desto weniger Schaden und Leid werden alle europäischen Familien, alle europäischen Länder erfahren.«

Der ukrainische Staatschef zeigte sich rund fünf Monate nach Kriegsbeginn zudem erneut dankbar für die aus den USA gelieferten Himars-Mehrfachraketenwerfer. Zugleich pochte er auf den Erhalt von Flugabwehrsystemen. Es gebe bereits Absprachen mit internationalen Partnern, doch angesichts der russischen Angriffe seien »eine ganz andere Geschwindigkeit und ein ganz anderes Ausmaß an Schutz« erforderlich, sagte Selenskyj.

Drohungen von Lawrow

Russlands Außenminister Sergej Lawrow droht derweil angesichts der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine mit der Einnahme weiterer Gebiete in dem Land.

»Die Geografie ist jetzt schon eine andere«, sagte der russische Chefdiplomat am Mittwoch im Interview des Moskauer staatlichen Fernsehsenders RT. Es gehe nicht mehr nur um den Donbass mit den von Russland anerkannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk und um die südukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja, sondern auch um »eine Reihe anderer Territorien«, sagte Lawrow. »Dieser Prozess geht weiter, er geht folgerichtig und mit Nachdruck weiter.«

Nach Darstellung von Lawrow erhält die Ukraine Waffen vom Westen mit immer größerer Reichweite von inzwischen bis zu 300 Kilometern. Entsprechend würden die ukrainischen Truppen immer weiter zurückgedrängt, damit für die »Volksrepubliken« oder Russland keine Bedrohung entstehe. Russland könne nicht zulassen, dass von dem restlichen Gebiet, das noch vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj oder sonst jemandem kontrolliert werde, eine Gefahr ausgehe. Lawrow erinnerte daran, dass die Entmilitarisierung der Ukraine eines der Hauptziele Russlands sei in diesem Konflikt.

Die Ukraine kritisiert heftig die russischen Drohungen über die Einnahme weiterer Gebiete. »Russland verwirft die Diplomatie und ist auf Krieg und Terror konzentriert«, schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Anstelle von Verhandlungen seien die Russen auf Blutvergießen aus.

Putin: Kiew hat kein Interesse an Friedenslösung

Russlands Präsident Wladimir Putin wirft der Ukraine vor, kein Interesse an einer Friedenslösung zu haben. Bei den Verhandlungen in Istanbul Ende März hätten beide Seiten »faktisch eine Einigung erzielt, sie musste nur noch unterzeichnet werden«, so Putin. Doch seither weigere sich Kiew, die erzielte Lösung umzusetzen. Bei den Verhandlungen im März hatten beide Seiten Annäherung bei der Frage nach einem blockfreien Status der Ukraine erzielt. Russland beharrt aber zudem darauf, dass die Ukraine die seit 2014 von Moskau annektierte Krim als russisch anerkennt und die Gebiete Donezk und Luhansk abtritt.

US-Regierung: Weitere Mehrfach-Raketenwerfer für die Ukraine

Die US-Regierung will der Ukraine im Kampf gegen die russischen Invasoren vier weitere Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Himars liefern. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte am Mittwoch bei einem Online-Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe, die bisher gelieferten Himars-Raketenwerfer hätten »auf dem Schlachtfeld so viel bewirkt«. Als Teil des nächsten Pakets für die Ukraine würden die USA außerdem weitere Waffen, Munition und Ausrüstung liefern, darunter Raketen und Artilleriegeschosse. Details würden im Laufe der Woche bekanntgegeben.

Mehr als 30 Staaten hätten inzwischen Waffen an die Ukraine geliefert, sagte Austin. Der Konflikt sei in einer "kritischen Phase". "Unsere kollektive Unterstützung für die Ukraine ist also lebenswichtig und dringend." Moskau denke, es könne die Ukraine und den Westen in dem Konflikt überdauern, "aber das ist nur die jüngste in einer Reihe von Fehlkalkulationen Russlands.

Syrien bricht diplomatische Beziehungen zur Ukraine ab

Syrien bricht derweil seine diplomatischen Beziehungen zur Ukraine ab. Dies berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Sana am Mittwoch unter Berufung auf das Außenministerium. Grund sei demnach, dass die Ukraine vor vier Jahren Visa syrischer Diplomaten in Kiew nicht erneuerte. Das Außenministerium warf der Ukraine vor, damals ebenfalls diplomatische Beziehungen abgebrochen zu haben.

Neue Parlamentskommission für mehr Transparenz

Selenskyj hat die Gründung einer neuen Parlamentskommission in der Ukraine angekündigt, die den Einsatz westlicher Waffen kontrollieren soll. Vorwürfe zu falschem Gebrauch der Waffen aus dem Westen gebe es nicht, betonte Selenskyj in einer Videoansprache. »Aber um alle Manipulationen russischer Propagandisten und derer, die ihnen in der Ukraine oder anderswo helfen, zu beseitigen, wird ein solches zusätzliches parlamentarisches Kontrollinstrument eingerichtet«, sagte er.

Nach den jüngsten Entlassungen des Geheimdienstchefs und anderer Führungskräfte in den Sicherheitsorganen will Selenskyj die Neuausrichtung dieser Behörden vorantreiben. So ernannte er gleich in fünf Regionen neue Chefs für den Geheimdienst SBU und berichtete von der Entlassung eines weiteren SBU-Vizechefs. Zuletzt hatte es Kritik wegen möglichen Geheimnisverrats in den Behörden und anhaltender Korruption gegeben.

Russen kämpfen sich im Donbass schrittweise vor

An der Front gehen derweil die Gefechte in der Ukraine ununterbrochen weiter. Gekämpft wird im Süden und im Osten des Landes. Strategisch bedeutende Vorstöße konnte dabei keine der beiden Konfliktparteien erzielen. Die russischen Streitkräfte haben aber bei den Gefechten um den Donbass im Osten der Ukraine nach ukrainischen Angaben weitere Geländegewinne erzielt.

»Der Feind hat im Raum Pokrowske einen Sturm durchgeführt, dabei teilweise Erfolg gehabt und setzt sich am Südrand der Ortschaft fest«, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit. Pokrowske ist eine Siedlung zehn Kilometer östlich des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Bachmut im Gebiet Donezk. Die Linie Siwersk-Soledar-Bachmut gilt als nächste Verteidigungslinie der Ukraine vor dem Ballungsraum um die Großstädte Slowjansk und Kramatorsk.

© dpa-infocom, dpa:220720-99-85273/9