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Krieg statt Aufbruch: Die Ampel nach 100 Tagen

Die ersten 100 Tage gelten für eine neue Regierung als Schonzeit. Diesmal nicht. Die Ampel ist im Corona-Krisenmodus gestartet und dann vom Ukraine-Krieg in eine neue Zeit katapultiert worden. Und jetzt?

Scholz und Lauterbach
Wie geht es weiter mit den Corona-Maßnahmen? Kanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach sprechen am Rande der Kabinettssitzung. Foto: Michael Kappeler
Wie geht es weiter mit den Corona-Maßnahmen? Kanzler Scholz und Gesundheitsminister Lauterbach sprechen am Rande der Kabinettssitzung.
Foto: Michael Kappeler

Ein Wort hat man lange nicht mehr gehört von der neuen Bundesregierung: Aufbruch. In der ersten Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz Mitte Dezember kam es noch 10 Mal vor - im Zusammenhang mit Klimaschutz, Digitalisierung, Modernisierung der Wirtschaft.

»Vor uns liegen große Aufgaben und entscheidende Weichenstellungen – Weichenstellungen, die wir jetzt vornehmen, weil wir jetzt den richtigen Kurs in die Zukunft einschlagen müssen«, sagte Scholz damals.

Am Donnerstag führt der 63-jährige SPD-Politiker seit 100 Tagen die erste Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP, auch Ampel genannt. Weichenstellungen hat er in dieser Zeit tatsächlich vollzogen. Sogar viel schneller und viel radikaler, als er sich das je hätte vorstellen können. Allerdings in eine ganz andere Richtung als geplant.

An Tag 82 dieser ersten 100 Tage hat der russische Einmarsch in die Ukraine die Ampel-Koalition in eine neue Zeit katapultiert. »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Morgen dieses 24. Februar, an dem nach vielen Jahren der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist.

Der Koalitionsvertrag der Ampel ist mit diesem Tag in weiten Teilen Makulatur. Da stand zum Beispiel noch: »Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig.« Russland sei ein wichtiger internationaler Akteur. »Wir wissen um die Bedeutung von substanziellen und stabilen Beziehungen und streben diese weiterhin an.« Es sind Sätze aus einer anderen Zeit, in der zwar bei weitem nicht alles gut war, die man sich nun trotzdem zurückwünscht.

Scholz vollzieht »Zeitenwende«

Vier Tage nach Kriegsbeginn vollzieht Scholz die »Zeitenwende« in der Regierungspolitik. Er verschreibt der Bundeswehr ein 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm, widmet mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts dem Militär, leitet mit der Ankündigung des Baus von Flüssiggas-Terminals auch eine Kehrtwende in der Energiepolitik ein. Und er genehmigt Waffenlieferungen in einen laufenden Krieg, die fortan zur Verteidigung gegen eine Atommacht eingesetzt werden.

Das ist nicht nur ein, es sind gleich mehrere Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bundestagssitzung vom 27. Februar mit der Regierungserklärung des Kanzlers zur Ukraine-Krise gilt schon jetzt als historisch. Scholz hat mit seiner Rede so viel umgekrempelt, wie manche Regierung in einer ganzen Wahlperiode nicht. Der neue Regierungschef, dem in den ersten Wochen seiner Amtszeit Zögerlichkeit, Verzagtheit, sogar Unsichtbarkeit vorgeworfen wurde, ist auf einmal da - und wie.

»Weiter so, Kanzler Scholz«, jubelt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, auch wenn noch nicht alle seine Wünsche erfüllt sind. Und auch in Nato und EU werden die Ankündigungen des Kanzlers einhellig begrüßt.

Auf der Weltbühne hat Scholz sich damit auf einen Schlag Respekt verschafft. Deutschland gilt jetzt als Land, das bereit ist, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch bei den Themen Abschreckung und Bündnisverteidigung voranzumarschieren.

Zu Hause steht Scholz die Bewährungsprobe aber noch bevor. Seine Kehrtwende hat der Kanzler vorher nur sehr hastig mit den Koalitionspartnern abgesprochen. Die Umsetzung könnte noch für Ärger sorgen. Es knirscht vor allem an diesen Stellen in der Koalition:

100 Milliarden für die Bundeswehr

Das Kabinett hat das massive Aufrüstungsprogramm zwar am Mittwoch angeschoben. Doch wofür das Geld genau ausgegeben werden soll, ist umstritten, auch wenn die Militärplaner bereits seit einiger Zeit an größeren Projekten arbeiten. Die Ampel will im Grundgesetz lediglich festlegen, dass es der »Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit« dient, in einem weiteren Gesetzentwurf ist die Rede von der Finanzierung bedeutsamer Ausrüstungsvorhaben. Das lässt Spielraum. Bei den Grünen gibt es Vorbehalte gegen die rein militärische Verwendung der 100 Milliarden Euro.

Fest steht, dass das Geld als Kredit aufgenommen und von der Schuldenbremse ausgenommen werden soll. Dafür plant die Ampel eine Grundgesetzänderung und bräuchte dann auch Stimmen aus der Opposition. Die Union, die die Regierungserklärung von Scholz noch laut beklatscht hat, ist bisher allerdings wenig begeistert.

Ausgleich für die hohen Energiekosten

Sie sind die spürbarste innenpolitische Folge des Krieges. Dass es zusätzliche Entlastungen braucht und einen verschärften Ausbau erneuerbarer Energien, darüber sind sich alle drei Koalitionspartner einig. An der Ausgestaltung scheiden sich aber die Geister. Am Wochenende machte die »Bild«-Zeitung Pläne von FDP-Finanzminister Christian Lindner für einen staatlichen Tank-Zuschuss öffentlich.

Vertreter von SPD und Grünen zeigten sich düpiert, dass Vorstellungen Lindners noch während interner Verhandlungen über ein Gesamtpaket publik wurden. In den Worten von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wurde dies deutlich: »Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundesfinanzminister mit uns gemeinsam in der Koalition und in der Bundesregierung einen abgestimmten Vorschlag auf die Strecke bringt.« Das sei vertrauensvollen Gesprächen nicht zuträglich, meinen die Koalitionspartner.

Corona zurück auf der Tagesordnung

Ach ja, da war ja noch was. Am 100. Tag der neuen Regierung kommt das Vorkriegs-Problemthema Nummer eins der Koalition zurück auf die Tagesordnung. Der Bundestag berät erstmals konkret über die unterschiedlichen Modelle für eine Impfpflicht - Ausgang offen. Am Freitag wird mit einer Neufassung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, wie es nach der weitgehenden Aufhebung der Corona-Maßnahmen ab dem 20. März weitergehen soll. Die FDP sieht das deutlich lockerer als die beiden anderen Koalitionspartner. Auch bei der von Scholz und seiner SPD angestrebten Impfpflicht mit 18 zieht ein großer Teil der Liberalen nicht mit.

In den Umfragen hatten alle drei Koalitionsparteien in den ersten Regierungswochen zunächst verloren. Seit Kriegsbeginn zeigt die Kurve zumindest für die SPD und die Grünen wieder leicht nach oben. Der erste echte Stimmungstest steht am 27. März an, bei der Wahl im Saarland.

© dpa-infocom, dpa:220316-99-544446/3