Gut sieben Monate nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine hat Russland vier Gebiete im Osten und im Süden des Landes annektiert. Kremlchef Wladimir Putin unterschrieb am Freitag die Abkommen, mit denen die Einverleibung der besetzten Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson besiegelt wurde. International werden die Annexionen nicht anerkannt. Die EU, die G7-Staaten, die Nato und auch Deutschland verurteilten den Schritt scharf. Die USA verhängten neue Sanktionen gegen Moskau. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte als Reaktion auf die Annexionen an, einen beschleunigten Beitritt zur Nato zu beantragen.
Moskau hatte in den vier Regionen zuvor Scheinreferenden organisiert, in denen die Bevölkerung angeblich für einen Beitritt zu Russland gestimmt hat. Auch diese sogenannten Referenden wurden weltweit nicht anerkannt und als undemokratisch sowie völkerrechtswidrig verurteilt. Dennoch sagte Putin nun, die Annexion sei »der Wille von Millionen Menschen«, die in »ihre historische Heimat zurückzukehren« wollten.
Putin forderte die Ukraine zu Verhandlungen auf. Kiew müsse die Angriffe gegen die russischen Besatzer im Osten stoppen - dort hatte die Ukraine Gegenoffensiven gestartet und Gebiete zurückerobert. Russland werde Militärschläge in den Regionen nun als Angriffe gegen das eigene Staatsgebiet werten. Putin wiederholte die Drohung, »mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln« zu reagieren. Dies verstärkt Ängste vor einem möglichen Atomschlag Moskaus.
Nato sieht »entscheidenden Moment« im Ukraine-Krieg
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete das jüngste Vorgehen Russlands im Krieg gegen die Ukraine als schwerste Eskalation seit Beginn der Invasion am 24. Februar. »Das ist ein entscheidender Moment«, sagte der Norweger in Brüssel. Er verwies auf die Teilmobilisierung Russlands, nukleares Säbelrasseln und die unrechtmäßige Annexion ukrainischer Gebiete. »Nichts davon zeugt von Stärke. Es zeigt Schwäche«, sagte Stoltenberg. Dies sei ein Eingeständnis, dass der Krieg nicht nach Plan verlaufe.
Die G7-Gruppe führender Industriestaaten bezeichnete die Annexion als »einen neuen Tiefpunkt der eklatanten Missachtung des Völkerrechts durch Russland«. Die Staaten stünden »unbeirrbar« zur Ukraine und deren Recht, sich zu verteidigen und ihr Hoheitsgebiet von Russland zurückzuerlangen.
30 Tote bei Beschuss von zivilem Autokonvoi
Unterdessen wurde in der südukrainischen Stadt Saporischschja ein ziviler Autokonvoi mit Raketen beschossen. 30 Menschen starben nach übereinstimmenden ukrainischen und russischen Angaben. Weitere 88 wurden verletzt. Beide Seiten bezichtigten sich gegenseitig, den Konvoi angegriffen zu haben. Selenskyj nannte die Täter »absolute Terroristen«, für die »in der zivilisierten Welt kein Platz ist«.
Putin unterschreibt Dokumente zur Annexion
Putin unterschrieb die Annexion der vier mehrheitlich von eigenen Truppen besetzten Gebiete in der Ukraine. Die Menschen in Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja seien ab sofort russische Staatsbürger - »und das für immer«. Sein Land sei bereit, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, fügte er an. Über die nun einverleibten Gebiete werde aber nicht mit der Ukraine diskutiert. Die Ukraine kontrolliert Teile der Gebiete weiterhin und will sie mit Hilfe westlicher Waffen komplett befreien. Selenskyj sagte, er lehne eine Wiederaufnahme von Gesprächen ab, solange Putin Kremlchef sei.
EU und Steinmeier: Keine Anerkennung illegaler Annexionen
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten wiesen die russische Annexion als unrechtmäßig zurück. In einem Statement hieß es: »Diese Entscheidungen sind null und nichtig und können keinerlei Rechtswirkung entfalten.« Russland setze die globale Sicherheit aufs Spiel. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verurteilte die Scheinreferenden und Annexionen.
USA verkünden weitere Sanktionen gegen Russland
Die USA verhängten neue Sanktionen gegen Russland. Die Strafmaßnahmen richten sich etwa gegen weitere russische Regierungsvertreter, deren Familienmitglieder sowie Angehörige des Militärs. Die Liste umfasst Hunderte Personen - und auch Firmen. Präsident Joe Biden sagte: »Die Vereinigten Staaten verurteilen den heutigen betrügerischen Versuch Russlands, souveränes ukrainisches Gebiet zu annektieren.«
Ukraine beantragt beschleunigten Nato-Beitritt
Zum Antrag auf einen beschleunigten Nato-Beitritt sagte Selenskyj: »Faktisch haben wir unseren Weg in die Nato schon beschritten. Heute stellt die Ukraine den Antrag, um es auch de jure zu tun.« Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte dazu in Brüssel: »Wir haben immer wieder erklärt, dass die Tür der Nato offen bleibt.«
Bundesaußenminister Annalena Baerbock äußerte sich zurückhaltend: »Wir unterstützen die Ukraine weiterhin auch mit schweren Waffen bei ihrem Recht auf Selbstverteidigung, aber wir tun alles dafür, dass nicht andere Länder, dass die Nato nicht in diesen Krieg hineingezogen wird«, sagte sie am Freitagabend im ARD-»Brennpunkt«.
Auch die USA sehen keinen Bedarf an einem beschleunigten Verfahren. »Unsere Ansicht ist, dass wir der Ukraine am besten durch praktische Unterstützung vor Ort helfen können. Und dass das Verfahren in Brüssel zu einer anderen Zeit aufgegriffen werden sollte«, sagte der Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus, Jake Sullivan, am Freitag in Washington.
Allgemein gilt als Voraussetzung für einen Nato-Beitritt, dass der Kandidat nicht in internationale Konflikte und Grenzstreitigkeiten verwickelt sein darf.
Finnlands Grenze für russische Touristen dicht
Finnland schloss in der Nacht zum Freitag seine Grenze für russische Touristen. Wie Aufnahmen des Senders Yle zeigten, schafften es am Grenzübergang Vaalimaa um 0.02 Uhr noch sieben Autos sowie ein Mann auf einem Fahrrad über die Grenze. Dann fiel der Schlagbaum herunter. Für Finnland, das eine komplexe Geschichte mit Russland verbindet, war das ein historischer Moment. Norwegen kündigte an, seine Grenze zu Russland stärker zu überwachen.
Ostsee-Explosionen durch »Sprengladung von mehreren 100 Kilo«
Die Lecks an den Nord-Stream-Gaspipelines wurden nach Einschätzung von dänischen und schwedischen Experten von Explosionen unter Wasser herbeigeführt mit »vermutlich einer Sprengladung von mehreren hundert Kilogramm«. Das berichteten die zwei skandinavischen Länder dem US-Sicherheitsrat vor der Dringlichkeitsdebatte am Freitagabend.
Aus mindestens zwei der vier Lecks an den Nord Stream-Pipelines in der Ostsee strömt inzwischen deutlich weniger Gas, wie die schwedische Küstenwache mitteilte. Basierend auf einem Dialog mit den Betreibern laute die Diagnose, dass der Gas-Austritt möglicherweise am Sonntag aufhöre.
EU einigt sich auf Gewinnabschöpfung gegen hohe Energiepreise
Die EU-Staaten haben sich angesichts hoher Energiepreise auf europäische Notmaßnahmen verständigt, um Strom zu sparen und Entlastungen zu finanzieren. Die Fachminister einigten sich darauf, dass Energieunternehmen künftig einen Teil ihrer Krisengewinne an den Staat abgeben müssen, wie die tschechische Ratspräsidentschaft mitteilte. Mit diesem Geld sollen Verbraucher entlastet werden. Die Einigung muss noch formell bestätigt werden.
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