Nach Wochen heftiger Kämpfe hat Russlands Armee eigenen Angaben zufolge das Stahlwerk Azovstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol komplett unter ihre Kontrolle gebracht.
Alle feindlichen Kämpfer hätten sich ergeben, teilte das Verteidigungsministerium in der Nacht zum Samstag in Moskau mit. Die weitläufige Industrieanlage am Asowschen Meer war der letzte Ort in der strategisch wichtigen Hafenstadt im Südosten der Ukraine, der noch nicht vollkommen unter russischer Kontrolle gestanden hatte.
Sluzki: Austausch der Mariupol-Kämpfer im Gespräch
Aussagen des prominenten russischen Außenpolitikers Leonid Sluzki zufolge ist ein möglicher Austausch der in Mariupol gefangen genommenen ukrainischen Kämpfer gegen den prorussischen Politiker Viktor Medwedtschuk im Gespräch. »Wir werden die Möglichkeit eines Austauschs von Medwedtschuk gegen die Asow-Kämpfer prüfen«, sagte Sluzki am Samstag der Agentur Interfax zufolge.
Seperatisten: 78 Frauen unter Asow-Kriegsgefangenen
Unter den im Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol in der Südostukraine gefangen genommenen Kämpfern sind laut den prorussischen Separatisten auch 78 Frauen. Der Chef der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, sagte am Samstagabend der russischen Staatsagentur Tass zufolge, es seien zudem Ausländer in russische Gefangenschaft gekommen. Eine Zahl nannte er zunächst nicht.
Selenskyj macht Westen mitverantwortlich
Die ukrainische Seite äußerte sich zunächst nicht zur angeblichen Einnahme des Werks. Nach Angaben aus Moskau kamen seit dem 16. Mai insgesamt 2439 ukrainische Soldaten, die sich in den Bunkeranlagen aus Sowjetzeiten verschanzt hatten, in russische Gefangenschaft. Am Freitag sei die letzte Gruppe von 531 Kämpfern gefangen genommen worden, hieß es. Das Stahlwerk war seit dem 21. April von russischen Truppen belagert worden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte - in einem noch vor der russischen Verkündung der Einnahme aufgenommenen Fernsehinterview - den Westen für die Entwicklung mitverantwortlich. Er habe die westlichen Staats- und Regierungschefs wiederholt aufgefordert, sein Land mit »geeigneten Waffen« zu versorgen, »damit wir Mariupol erreichen können, um diese Menschen zu befreien«.
Der frühere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kritisierte den zurückhaltenden Kurs der Bundesregierung in diesem Punkt. Deutschland sei »zu zögerlich bei der Lieferung schwerer Waffen und bei der Verhängung von Sanktionen«, sagte der Däne dem »Handelsblatt«. »Natürlich ist Deutschland in hohem Maße von russischen Gasimporten abhängig, doch ich denke, eine klare Haltung der Bundesregierung würde die gesamte Dynamik in der Ukraine verändern. Wir brauchen deutsche Führung.« Rasmussen forderte einen sofortigen Stopp aller Öl- und Gasimporte aus Russland nach Europa.
Ukraine befürchtet weiteren russischen Vormarsch
Die Ukraine befürchtet derweil einen weiteren Vormarsch russischer Truppen. Der ukrainische Militärgouverneur des Gebietes Luhansk, Serhij Hajdaj, meldete am Samstag massive Gefechte im Donbass. So steht etwa die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk seit Tagen unter Beschuss, es gibt Tote und Verletzte. »Die Russen löschen Sjewjerodonezk wie Mariupol aus. In den Vororten der Stadt laufen Kämpfe«, teilte Hajdaj im Nachrichtenkanal Telegram mit.
Der Gouverneur beklagte Bombardements aus der Luft in der Region, Russland wolle das Gebiet in Schutt und Asche legen. Zugleich wies er Aussagen von Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, kurz vor der kompletten Einnahme der Region Luhansk zu stehen, als »Unsinn« zurück. Schoigu habe keinen Überblick mehr über die Lage seiner eigenen Streitkräfte.
Selenskyj: Haben der russischen Armee Rückgrat gebrochen
Ungeachtet der Niederlage in der Hafenstadt Mariupol hat die ukrainische Armee nach Überzeugung von Präsident Wolodymyr Selenskyj Russlands Streitkräften großen Schaden zugefügt. Die Ukraine habe der russischen Armee »das Rückgrat gebrochen«, sagte Selenskyj in einem am Samstag ausgestrahlten Fernsehinterview. »Sie werden die nächsten Jahre nicht mehr auf die Beine kommen«, sagte der 44-Jährige. Kurz zuvor hatten sich die letzten mehr als 2400 ukrainischen Verteidiger der Hafenstadt im Südosten des Landes ergeben und in russische Gefangenschaft begeben.
Kiew werde sich alles zurückholen, betonte Selenskyj. Eine Rückkehr zu den Frontlinien von vor dem 24. Februar - der Tag, an dem Russlands Angriffskrieg begann - werde bereits als Sieg gelten. »Das wird bedeuten, dass sie uns nicht erobert und wir unser Land verteidigt haben«, sagte der Staatschef. Der Weg dorthin werde jedoch sehr schwierig. Am Ende stehe dann die Diplomatie.
Biden setzt Milliarden-HIlfspaket in Kraft
US-Präsident Joe Biden setzte das Milliarden-Hilfspaket der USA für die Ukraine derweil in Kraft. Biden unterzeichnete das entsprechende Gesetz am Samstag in Seoul bei seiner ersten Asien-Reise seit Amtsübernahme. Zuvor hatte der Kongress das Paket mit einem Volumen von fast 40 Milliarden Dollar (38 Milliarden Euro) mit großer Mehrheit beschlossen. Biden hatte den Kongress ursprünglich um 33 Milliarden Dollar gebeten. Das Parlament stockte die Summe dann noch auf.
Aus dem Paket entfällt rund die Hälfte der Gesamtsumme auf den Verteidigungsbereich. Davon sind sechs Milliarden Dollar für direkte militärische Hilfe für die Ukraine vorgesehen. Mit weiteren Milliardenbeträgen sollen unter anderem US-Lagerbestände wieder mit militärischer Ausrüstung aufgefüllt werden, die an die Ukraine geschickt wurde. Andere Mittel sind unter anderem vorgesehen für humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine oder für Menschen weltweit, die infolge des russischen Angriffskriegs Hunger leiden.
Fonds für Entschädigung gefordert
Wegen der massiven Zerstörung in seinem Land brachte Selenskyj in seiner nächtlichen Videoansprache einen Fonds ins Gespräch für Entschädigungszahlungen an Länder, denen Russland mit Angriffen Schaden zugefügt habe. Das könne in einem »multilateralen Abkommen« geregelt werden. Selenskyj schlug vor, russisches Kapital und Eigentum im Ausland einzufrieren oder zu beschlagnahmen und diesem neuen Fonds zuzuführen. »Das wäre gerecht«, meinte er.
Die Kriegsschäden in der Ukraine summieren sich ukrainischen Schätzungen zufolge schon jetzt auf Hunderte Milliarden Euro. Russland hatte Ende Februar seinen Angriff auf das Nachbarland begonnen.
Ukraine-Kontaktgruppe will beraten
Die neue internationale Ukraine-Kontaktgruppe will sich am Montag erneut zusammenschalten. Das US-Verteidigungsministerium kündigte an, das Treffen werde diesmal per Video abgehalten. Mit dabei seien Vertreter von mehr als 40 Ländern.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte Ende April Partner aus rund 40 Staaten zu einem Treffen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein eingeladen, um über Hilfe für die Ukraine zu beraten. Dort hatte er künftige Treffen der Kontaktgruppe im Monatsrhythmus in Aussicht gestellt.
Russische Angriffe gehen weiter
Selenskyj machte Russland auch für einen Raketenangriff auf ein Kulturzentrum im Osten des Landes mit acht Verletzten verantwortlich. Bei dem Beschuss in der Stadt Losowa im Gebiet Charkiw sei auch ein elf Jahre altes Kind verletzt worden, schrieb das Staatsoberhaupt im Nachrichtenkanal Telegram. »Die Besatzer haben Kultur, Bildung und Menschlichkeit als ihre Feinde identifiziert.« Russland wiederum warf der Ukraine vor, zivile Objekte für militärische Zwecke zu missbrauchen.
Russland weitet Einreiseverbote gegen USA und Kanada aus
Als Reaktion auf westliche Sanktionen weitete Russland Einreiseverbote gegen US-Amerikaner und Kanadier aus. Das Außenministerium in Moskau veröffentlichte am Samstag eine Liste mit den Namen von insgesamt 963 US-Bürgern, denen nun die Einreise nach Russland untersagt ist. Bereits zuvor war bekannt gewesen, dass etwa Präsident Joe Biden und Außenminister Anthony Blinken sowie Hunderte Mitglieder des US-Repräsentantenhauses betroffen sind.
Aus Kanada stehen nun unter anderem auch die Frau von Premierminister Justin Trudeau, Sophie Trudeau, sowie der Mann von Vize-Regierungschefin Chrystia Freeland, Graham Bowley, auf der so genannten Stop-Liste. Der Schritt ist eine Reaktion darauf, dass Kanada - wie auch die USA und - im Zuge von Russlands Krieg gegen die Ukraine zwei erwachsene Töchter von Kremlchef Wladimir Putin auf ihre Sanktionsliste gesetzt haben. Ihre Vermögenswerte in Kanada werden eingefroren und sie können künftig dort keine Geschäfte mehr machen.
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