In der ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat eine internationale Evakuierungsaktion zur Rettung von Zivilisten aus dem von russischen Truppen belagerten Stahlwerk begonnen.
Beteiligt sind auch die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), wie ein IKRK-Sprecher bestätigte. In einem Konvoi aus mehreren Bussen wurden nach ersten Angaben bereits mehrere Dutzend Zivilisten aus dem Stahlwerk Asovstal gebracht. Die Hoffnung ruht darauf, dass dies der Beginn einer größeren Aktion sein könnte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Sonntag von einer »ersten Gruppe von etwa 100 Menschen«, die evakuiert worden seien. »Jetzt arbeiten wir zusammen mit den UN an der Evakuierung von weiteren Zivilisten aus der Anlage«, schrieb er auf Twitter. Ukrainischen Angaben zufolge sollen in den Bunkeranlagen des Werks noch etwa 1000 Zivilisten eingeschlossen sein. Russland spricht von etwa 2500 Menschen, insbesondere Militärs und »ausländischen Söldnern«.
Zugleich setzten die russischen Truppen im Osten und Süden des Nachbarlands ihre Angriffe fort. Kiew meldete Gegenangriffe. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sicherte der Ukraine weitere militärische und humanitäre Unterstützung zu. Auch die USA versprachen zusätzliche Hilfe. Dazu bildet das US-Militär inzwischen auch in Deutschland ukrainische Soldaten aus.
Zivilisten aus Stahlwerk gerettet
Aus dem Gebiet rund um das belagerte Stahlwerk Azovstal konnten nach Angaben der russischen Staatsagentur Tass zuvor 40 Menschen gerettet werden, darunter acht Kinder. Am Samstag hatten nach russischen Angaben bereits 46 Menschen das Werksgelände beziehungsweise Häuser in unmittelbarer Nähe verlassen können. Das ukrainische Asow-Regiment, dessen Kämpfer sich ebenfalls in dem Stahlwerk verschanzt haben, sprach von 20 evakuierten Frauen und Kindern. Für eine solche Lösung hatte sich UN-Generalsekretär António Guterres in den vergangenen Tagen bei Besuchen in Moskau und Kiew eingesetzt.
Kiew berichtet von Verletzten bei Angriffen
Die russische Regierung berichtete zugleich von weiteren Angriffen. Rund um Saporischschja seien Flugabwehrraketensysteme zerstört worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Im Gebiet Charkiw seien zwei Kampfflugzeuge abgeschossen worden. Die ukrainische Seite sprach von mehreren Verletzten. Konaschenkow bestätigte zudem einen Angriff auf einen Flugplatz der Schwarzmeer-Metropole Odessa. Mit Raketen seien die Landebahn zerstört worden sowie ein Hangar, in dem Waffen aus dem Westen gelagert gewesen seien. Die Ukraine bestätigte den Beschuss.
Die ukrainische Armee beschoss nach eigenen Angaben mit Raketen die von Russland besetzte Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Dabei seien mehrere Luftabwehrkomplexe und eine Kommunikationseinheit zerstört worden. 42 russische Soldaten sollen getötet worden sein. Solche Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen. Der russische Angriffskrieg auf das Nachbarland dauert inzwischen schon mehr als zwei Monate. Auf beiden Seiten gibt es zahlreiche Todesopfer und Verletzte, darunter auch viele ukrainische Zivilisten.
Russland wirft der Ukraine inzwischen vor, zunehmend Angriffe auf russisches Territorium zu unternehmen. Am Wochenende beklagte beispielsweise der Gouverneur der westrussischen Region Kursk, Roman Starowojt, Granatbeschuss von ukrainischer Seite. Die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau laufen im Hintergrund weiter. Über Fortschritte ist nichts bekannt. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kriegs ist gering.
Kiew meldet Tote bei Angriff auf russischen Armeestab
Bei einem ukrainischen Angriff auf das Quartier des russischen Armeestabs in der Stadt Isjum sind nach Angaben aus Kiew mehrere Menschen getötet worden. Darunter seien ranghohe Offiziere, berichtete ein Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschtschenko, am Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram. Die 50.000-Einwohner-Stadt Isjum liegt im Osten der Ukraine.
Nach ukrainischen Angaben hält sich dort auch der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow auf, um die Offensive im Donbass zu befehligen. Der Angriff soll bereits am Samstag erfolgt sein. Aus Russland gab es dafür keine Bestätigung - auch nicht für den Aufenthalt Gerassimows in der Gegend.
Russisches Militärobjekt in Gernzgebiet brennt
Im Westen Russlands geriet unterdessen unweit der Grenze zur Ukraine eine militärische Einrichtung in Brand. Das Feuer sei im Gebiet Belgorod »auf dem Gebiet eines Objekts des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation« ausgebrochen, schrieb Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow am Sonntag im Nachrichtendienst Telegram. Ein Anwohner sei verletzt worden. Informationen über Schäden lägen noch nicht vor. Um was für eine Art Militärobjekt es sich genau handeln soll, sagte Gladkow nicht. Auch die Brandursache war zunächst unklar.
Scholz sagt Ukraine weitere Unterstützung zu
Bundeskanzler Scholz kündigte am Sonntag bei einer DGB-Kundgebung in Düsseldorf an, dass Kiew weiterhin mit finanzieller Hilfe und Waffentechnik rechnen könne. »Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, mit Geld, mit humanitärer Hilfe. Aber auch das muss gesagt werden: Wir werden sie unterstützen, dass sie sich verteidigen kann, mit Waffenlieferungen, wie viele andere Länder in Europa das auch machen.«
In der »Bild am Sonntag« verteidigte der SPD-Politiker seine Ukraine-Politik. »Ich treffe meine Entscheidungen schnell - und abgestimmt mit unseren Verbündeten. Übereiltes Agieren und deutsche Alleingänge sind mir suspekt.« CDU-Chef Friedrich Merz hatte dem Kanzler mit Blick auf deutsche Waffenlieferungen für Kiew Ängstlichkeit und Zaudern vorgehalten. Auch aus der Ampel-Koalition selbst gab es solche Kritik. Merz will in den nächsten Tagen nach Kiew reisen. Über ähnliche Reisepläne des Kanzlers ist nichts bekannt.
Kuleba: Deutschland im EU-Vergleich zögerlich
Die Regierung in Kiew stuft die deutsche Reaktion auf den Angriffskrieg derweil als eher zögerlich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein. Außenminister Dmytro Kuleba sagte der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (Montag), Deutschland sollte aber »gerade in Fragen der Ostpolitik die Führungsrolle in Europa übernehmen«. Das gelte für Waffenlieferungen an die Ukraine, Sanktionen gegen Russland und die Gewährung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Die Ukraine hoffe insgesamt auf »mutige, visionäre Entscheidungen« der Bundesregierung.
Kuleba warnte, sollte der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg gewinnen, »wird Europa über Jahrzehnte keine Stabilität und Sicherheit genießen«. Mit einem Sieg der Ukraine dagegen werde Europa neu erfunden und gestärkt in die Zukunft gehen.
US-Außenminister kündigt »robuste Unterstützung« Kiews an
US-Außenminister Antony Blinken versprach der Ukraine weitere »robuste Unterstützung«. In einem Gespräch mit seinem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba kündigte er zudem die baldige Rückkehr von US-Diplomaten in die Ukraine an. Weiteres Thema waren die von US-Präsident Joe Biden versprochenen weiteren Finanzhilfen in Höhe von umgerechnet mehr als 31 Milliarden Euro. Der Großteil - 20 Milliarden - ist für Militärhilfe gedacht. Unterdessen begannen die USA mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland und anderen Ländern. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums geht es dabei um den Umgang mit Haubitzen und anderen Waffensystemen.
US-Demokratin Pelosi in Kiew
Mehr als zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die Hauptstadt Kiew besucht. Selenskyj bedankte sich bei einem Treffen mit der US-Demokratin für die Unterstützung aus den Vereinigten Staaten, wie Selenskyj am Sonntag im Nachrichtendienst Telegram mitteilte. Dazu veröffentlichte er ein Video. Darauf ist zu sehen, wie sich Pelosi und Selenskyj die Hand geben und dann gemeinsam das Präsidialamt betreten.
Ein Sprecher Pelosis teilte mit: »Unsere Delegation ist nach Kiew gereist, um eine unmissverständliche und schallende Botschaft an die ganze Welt zu senden: Amerika steht fest an der Seite der Ukraine.«
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