Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will angesichts des möglichen Ausfalls der wichtigen US-Militärhilfen zum Jahresende heute persönlich beim US-Senat um weitere Unterstützung bitten.
Selenskyj wolle die Dringlichkeit weiterer US-Hilfen für sein Land deutlich machen und werde per Video in eine nicht-öffentliche Sitzung der Senatorinnen und Senatoren zugeschaltet, kündigte der demokratische Mehrheitsführer in der Parlamentskammer, Chuck Schumer, an. Er bitte alle, an diesem »wichtigen Briefing« teilzunehmen. Es gehe darum, direkt von Selenskyj zu erfahren, was auf dem Spiel stehe.
Innenpolitischer Streit im US-Parlament
Die Direktorin des nationalen Haushaltsamtes, Shalanda Young, hatte in einem am Montag veröffentlichten Brief an die Führung in beiden Kongresskammern geschrieben, wenn das Parlament nicht handele, werde die Regierung am Jahresende keinerlei Mittel mehr haben, um weitere Waffen und Ausrüstung für die Ukraine zu beschaffen oder Ausrüstung aus eigenen Militärbeständen an Kiew zu liefern. US-Präsident Joe Biden hatte bereits im Oktober beim Kongress ein gewaltiges Milliarden-Paket beantragt, das unter anderem frisches Geld für die Ukraine vorsieht.
Die Freigabe neuer US-Hilfen für die Ukraine wird aber weiterhin von einem innenpolitischen Streit zwischen Demokraten und Republikanern im US-Parlament blockiert. Mehr und mehr Republikaner melden Zweifel an der Unterstützung für die Ukraine an oder lehnen diese völlig ab. Ein jüngst verabschiedeter Übergangshaushalt enthält erneut keine neuen Mittel für die Ukraine.
Schumer forderte seine Kollegen auf, »das Richtige zu tun« und die Freigabe neuer Mittel voranzubringen. Wenn die Ukraine falle, werde der russische Präsident Wladimir Putin »weitermachen«, warnte er. Autokraten auf der ganzen Welt würden ermutigt werden. Es gehe letztlich um die Verteidigung der Demokratie.
Der ukrainische Präsident wird sich nach Angaben des demokratischen Mehrheitsführers im US-Senat doch nicht per Videoschalte an Senatorinnen und Senatoren wenden, um für weitere US-Hilfen für sein Land zu werben. In letzter Minute sei etwas dazwischen gekommen, sagte Chuck Schumer.
Ukrainische Armee im Osten unter Druck
Die ukrainische Armee muss sich an der Front im Osten und Süden des Landes weiter heftiger Angriffe von russischer Infanterie, Artillerie und Luftwaffe erwehren. Der Generalstab in Kiew sprach in seinem Abendbericht von 61 Infanterieangriffen des Feindes allein am Montag. Sie seien abgewehrt worden, hieß es dazu ohne weitere Einzelheiten.
Entlang der Front seien Dutzende Ortschaften von russischer Artillerie oder von Flugzeugen beschossen worden. Von eigenen Offensivaktionen der Ukrainer war anders als noch vor wenigen Tagen keine Rede mehr in dem Bericht. In den späten Abendstunden am Montag griffen russische Kampfdrohnen Ziele im ostukrainischen Gebiet Charkiw an. Dabei habe es Treffer gegeben, teilte die Gebietsverwaltung mit.
Awdijiwka weiter heftig umkämpft
Die russischen Hauptanstrengungen konzentrierten sich nach Kiewer Angaben weiter auf die Frontstadt Awdijiwka im Donbass, die dicht vor dem russisch kontrollierten Donezk liegt. In Awdijiwka und Umgebung wurden 15 russische Sturmangriffe gezählt.
»Der Feind unternahm erfolglose Versuche, die ukrainische Verteidigung zu durchbrechen«, hieß es im Bericht des Generalstabs. Die russische Armee versucht seit Oktober, die ukrainischen Truppen in Awdijiwka abzuschneiden. Dabei erleidet die russische Seite schwere Verluste an Menschen und Technik. Sie hat sich aber allein aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit immer weiter vorgearbeitet. Die Militärangaben sind meist nicht sofort unabhängig überprüfbar.
Russische Drohnen über dem Gebiet Charkiw
Die Drohnentreffer verursachten im Gebiet Charkiw mehrere Brände, wie Gouverneur Oleh Synjehubow auf seinem Telegram-Kanal schrieb. Es seien »Objekte der zivilen Infrastruktur« getroffen worden, schrieb er ohne nähere Angaben. Von Verletzten war zunächst nicht die Rede. Nach Ende des Luftalarms im Gebiet Charkiw gingen die russischen Drohnen-Angriffe in südlichen und westlichen Gebieten der Ukraine weiter.
Russland ließ nach ukrainischen Angaben am Abend erneut Kampfdrohnen in Richtung des Nachbarlandes fliegen. Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, Gefahr bestehe vor allem für den Süden des Gebietes Odessa. Eine weitere Gruppe von Shahed-Drohnen iranischer Bauart fliege über das Gebiet Mykolajiw Richtung Westen.
Zugleich meldete die ukrainische Luftwaffe, sie habe über dem Westen des Schwarzen Meeres nahe der Schlangeninsel einen russischen Kampfbomber vom Typ Suchoi Su-24 abgeschossen. Auch Präsident Selenskyj erwähnte den Abschuss der SU-24 in seiner abendlichen Videoansprache.
London: Russland kontrolliert größten Teil von Marjinka
Russische Einheiten machten zudem nach britischer Einschätzung zuletzt Fortschritte beim Kampf um den Ort Marjinka im ostukrainischen Gebiet Donezk. »Russland kontrolliert mittlerweile wahrscheinlich den größten Teil des bebauten Gebiets«, teilte das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. »Die ukrainischen Streitkräfte behalten jedoch weiterhin die Kontrolle über kleinere Gebiete am westlichen Rand der Stadt.«
»Russlands erneute Vorstöße gegen Marjinka sind Teil der russischen Herbstoffensive«, hieß es in London weiter. Dem Kreml gehe es darum, die von ukrainischen Kräften kontrollierten Teile des Gebiets Donezk zu erobern, das Russland sich unter Bruch des Völkerrechts einverleibt hatte. Dies sei höchstwahrscheinlich immer noch eines der zentralen russischen Kriegsziele, betonte das Ministerium.
Russland berichtet von abgewehrten Drohnenangriffen
Russland hat eigenen Angaben zufolge in der Nacht zum Dienstag eine größere Welle ukrainischer Drohnenangriffe abgewehrt. 26 unbemannte Flugkörper seien zerstört worden, 15 weitere seien über dem Asowschen Meer und über der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim abgefangen worden, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Unabhängig überprüfen ließ sich das zunächst nicht. Immer wieder kommt es vor, dass Russland von angeblich erfolgreich abgewehrten Angriffen spricht, dann aber doch Schäden bekannt werden.
Bewohner auf der Krim berichteten Medien zufolge von Explosionsgeräuschen. Zwischenzeitlich wurde in der Nacht die 19 Kilometer lange Brücke von Kertsch gesperrt, die die völkerrechtswidrig einverleibte Krim und das russische Festland verbindet.
Putin kritisiert Umgang mit Russen in Lettland
Russlands Präsident Putin kritisierte in bedrohlichen Worten den Umgang Lettlands mit einem Teil der russischen Bevölkerung. »Ich glaube nicht, dass das Glück zu denen ins Haus kommt, die eine solche Politik verfolgen«, sagte der Kremlchef am Montag in Moskau. Wer Teile seiner Bevölkerung - so wörtlich - schweinisch behandele, brauche sich nicht zu wundern, wenn sich dies gegen einen selbst kehre. Das sagte Putin der Agentur Tass zufolge bei einer Sitzung des russischen Menschenrechtsrats. Der Kreml hatte auch den Krieg gegen die Ukraine unter anderem mit der angeblichen Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung im Nachbarland begründet.
Ukraine führt auf See Millionen Tonnen Fracht aus
Über den erneuerten Seekorridor im Schwarzen Meer hat die Ukraine nach Worten von Präsident Selenskyj bereits mehr als sieben Millionen Tonnen Fracht ausgeführt. Dies sei wichtig für die Häfen, für die Landwirtschaft, aber auch für viele andere Branchen, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. »Millionen von Arbeitsplätzen in der Ukraine hängen von den Exporten ab, die unser Land anbieten kann.« Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation IMO unterstütze die Ukraine, den Seekorridor auszurüsten.
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