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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Im Osten der Ukraine toben schwere Gefechte, russische Truppen setzen die Verteidiger unter Druck. Doch an einem anderen, wenig beachteten Frontabschnitt sind die Ukrainer in der Offensive. Der Überblick.

Cherson
Die Ukraine wehrt seit fast 21 Monaten eine großangelegte russische Invasion ab. Foto: Alex Babenko/DPA
Die Ukraine wehrt seit fast 21 Monaten eine großangelegte russische Invasion ab.
Foto: Alex Babenko/DPA

Russland versucht nach Kiewer Einschätzung mit verstärkten Angriffen nahe der ostukrainischen Großstadt Donezk einen militärischen Erfolg zu erzwingen. Der Generalstab der Ukraine berichtete am Dienstagabend von einer Vielzahl russischer Angriffe bei Awdijiwka und Marjinka. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sah dabei einen Zusammenhang mit der kommenden Präsidentenwahl in Russland 2024. Kremlchef Wladimir Putin wolle zuvor unbedingt einen Erfolg vorweisen können, sagte er in Kiew.

Gleichzeitig äußerte sich die ukrainische Führung erstmals zu einem Brückenkopf auf dem eigentlich russisch besetzten Südufer des Flusses Dnipro bei Cherson. Die Ukraine wehrt seit fast 21 Monaten mit westlicher Hilfe eine großangelegte russische Invasion ab. Das ukrainische Militär zählt am Mittwoch den 630. Kriegstag. Als wichtiger Teil der Unterstützung hat Deutschland in dieser Zeit nach Bundeswehrangaben etwa 8000 ukrainische Soldaten ausgebildet.

Dutzende russische Angriffe bei Donezk

Entlang der gesamten Front habe es 57 Gefechte gegeben, schrieb der Generalstab in seinem Lagebericht am Abend. Allein 18 Angriffe habe die Ukraine bei den Orten Marjinka und Nowomychajliwka westlich von Donezk abgewehrt. Weitere 15 Angriffe seien bei der Stadt Awdijiwka im Norden von Donezk abgewehrt worden, hieß es.

Donezk ist mit knapp einer Million Einwohner Zentrum des ostukrainischen Kohle- und Stahlreviers Donbass und seit 2014 in der Hand russisch gesteuerter Kräfte. Die Front verlief seitdem dicht an der Stadt; die ukrainische Armee unterhält dort stark befestigte Stellungen. Deshalb hat sich die Frontlinie auch nach Beginn der großangelegten russischen Invasion 2022 kaum verändert.

Durch russischen Beschuss wurden im Süden und Osten der Ukraine offiziellen Angaben zufolge mindestens zwei Zivilisten getötet und zehn weitere verletzt. In der umkämpften Region Saporischschja starb laut dem regionalen Militärgouverneur Jurij Malaschko ein Mann, nachdem drei russische Raketen in seiner Ortschaft einschlugen. Sieben Menschen seien dort außerdem verletzt worden.

In der ostukrainischen Stadt Selydowe im Gebiet Donezk wurde den Behörden zufolge ein mehrstöckiges Wohnhaus von einer russischen Rakete getroffen. Eine 85 Jahre alte Frau wurde demnach getötet, drei weitere Menschen erlitten Verletzungen.

Selenskyj: Putin braucht Erfolg für seine Kandidatur

In seiner Videoansprache sagte Selenskyj, Kremlchef Putin verfolge mit den Gefechten bei Donezk zynisch ein politisches Ziel. »Er ist bereit, unbegrenzt viele seiner Leute zu töten, um in der ersten Dezemberhälfte wenigstens einen taktischen Erfolg vorweisen zu können. Nämlich dann, wenn er seine Wahlen ankündigen will.«

In diesen Kämpfen verliere Russland noch schneller Soldaten und Technik als bei der langen Schlacht um Bachmut im vergangenen Winter. »Diesem Druck standzuhalten, ist äußerst schwer«, sagte Selenskyj und dankte seinen Soldaten. Je mehr russische Kräfte bei Awdijiwka vernichtet würden, desto schwieriger werde die Lage für den Feind.

In Russland finden im kommenden März Präsidentenwahlen statt, die vom Kreml bereits vorbereitet werden. Putin hat seine erneute Kandidatur noch nicht offiziell erklärt. Am Mittwoch will er sich nach Kreml-Angaben mit Vertretern der Zentralen Wahlkommission treffen.

Ukrainischer Brückenkopf am Dnipro wird ausgeweitet

Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, bestätigte einen Brückenkopf auf dem eigentlich russisch besetzten Südufer des Dnipro im Gebiet Cherson. »Gegen alle Widerstände haben die Streitkräfte der Ukraine am linken Ufer des Dnipro Fuß gefasst«, sagte Jermak bei einer Rede in Washington. Ziel sei es auch hier, dichter an die von Russland annektierte Halbinsel Krim heranzukommen. »Wir haben 70 Prozent der Strecke zurückgelegt. Und unsere Gegenoffensive geht weiter«, sagte er.

Nach Analysen westlicher Beobachter haben die Ukrainer in den vergangenen Tagen den Brückenkopf bei Krynki ausgeweitet und auch leichte Panzertechnik nach dort gebracht. Russische Militärblogger beklagen, dass russische Truppen dort unter Feuer gerieten und die Initiative bei den Ukrainern liege.

8000 ukrainische Soldaten in Deutschland ausgebildet

Die Bundeswehr und ihre Partner haben bislang etwa 8000 ukrainische Soldaten ausgebildet. »Meine Erwartung ist, dass wir bis Ende des Jahres ungefähr 10.000 ausgebildet haben werden in circa 200 Trainingsmodulen«, sagte Generalleutnant Andreas Marlow, Befehlshaber des multinationalen Ausbildungskommandos (»Special Training Command«). Es hat seinen Sitz in Strausberg bei Berlin und steuert die Arbeit der vor einem Jahr gestarteten EU-Trainingsmission (EUMAM) für die Ukraine.

Die Ausbildung umfasst verschiedene Ebenen von einer Grundausbildung über Spezialisierungen - wie Sanitäter, Scharfschützen oder Panzerbesatzungen - bis hin zur Ausbildung des militärischen Führungspersonals. Einige Akzente hätten sich geändert. Marlow nannte eine Verschiebung von defensiven hin zu offensiven Operationen.

Osteuropäer fordern mehr Einsatz für Munitionsplan

Aus Osteuropa kommen Forderungen nach entschlossenen Rettungsversuchen für den vom Scheitern bedrohten EU-Munitionsplan für die Ukraine. Wenn aus den eigenen Lagern und über eigene neue Bestellungen bei der Industrie nicht ausreichend Munition organisiert werden könne, sollte man bereit sein, in Drittstaaten zu kaufen, sagte Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Dies sei eine der möglichen Lösungen.

Der estnische Politiker reagierte mit den Forderungen auf den schleppenden Fortschritt beim EU-Plan für die Lieferung von einer Million Artilleriegeschosse an die Ukraine bis zum Frühjahr 2024. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte deswegen am Rande von EU-Beratungen erklärt, dass er ein Scheitern erwarte. Ähnlich wie Pevkur hatte sich bereits vor den EU-Beratungen der lettische Verteidigungsminister Andris Spruds geäußert.

Das wird am Mittwoch wichtig

Das ukrainische Militär erwartet weiter schwere russische Angriffe bei Awdijiwka und Marjinka.

© dpa-infocom, dpa:231115-99-949085/3