Logo
Aktuell Ausland

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Nach mehr als 20 Monaten Kampf gegen die russischen Invasoren will die Ukraine die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Und Schoigu besucht russische Soldaten an der Front. Die News im Überblick.

Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Wolodymyr Selenskyj bei einer Liveübertragung zum 6. Deutsch-Ukrainischen Businessforum der DIHK in Berlin. Foto: Kay Nietfeld/DPA
Der ukrainische Wolodymyr Selenskyj bei einer Liveübertragung zum 6. Deutsch-Ukrainischen Businessforum der DIHK in Berlin.
Foto: Kay Nietfeld/DPA

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mit Nachdruck den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen als Motivation für sein Land im Kampf gegen die russische Aggression gefordert.

»Motivation ist auch eine Waffe. Und sie muss geladen werden«, sagte Selenskyj in seiner gestern Abend in Kiew verbreiteten Videobotschaft. »Wir erwarten diese kraftvolle Aufladung der ukrainischen Motivation: die Bereitschaft seitens der EU, die Verhandlungen mit der Ukraine zu beginnen.« Dazu brauche es eine politische Entscheidung, damit die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres beginnen können.

Selenskyj per Video bei EU-Kommission zugeschaltet

Auch die Bürger und die Soldaten im Krieg bräuchten diese Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft. »Schritt für Schritt bewegen wir uns auf einen historischen Meilenstein in unserem Verhältnis mit Europa zu«, sagte Selenskyj. Er war gestern auch per Video zu einer Sitzung der EU-Kommission unter Leitung von Präsidentin Ursula von der Leyen zugeschaltet. Dabei hatte Selenskyj betont, dass die Ukraine trotz des Krieges eine Vielzahl an Aufgaben wie den Kampf gegen Korruption als Bedingung für den Start von Verhandlungen in Angriff genommen habe.

Es gebe bedeutende gesetzliche Neuerungen und die nötigen Schritte zum Aufbau von Institutionen. Er hoffe, dass die EU das sehe und den Startschuss für die Verhandlungen gebe, sagte Selenskyj. In seiner abendlichen Videoansprache bedankte er sich einmal mehr auch bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der beim 6. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum in Berlin Kiew gestern langfristige Unterstützung beim Wiederaufbau zugesagt hatte.

Selenskyj: »Wir werden niemanden zurücklassen«

Selenskyj wandte sich in seiner Videoansprache auch an die Bewohner der von Russland bereits 2014 unter Bruch des Völkerrechts annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim und an die Bürger in anderen von Moskau kontrollierten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine. »Sie alle spüren, dass die russische Präsenz in unserem Land nicht von Dauer ist. Ich weiß das«, sagte er. Die Ukraine werde ihre Gebiete samt der Menschen dort zurückerobern. »Wir werden niemanden zurücklassen. Wir nutzen alle Mittel, um sicherzustellen, dass dieser Krieg mit einer Niederlage der Besatzer endet.«

Der ukrainische Präsident hatte gestern auch in einer Videoansprache bei einer Konferenz der Krim-Plattform betont: »Russlands Niederlage bedeutet Sicherheit für Europa.« Er sagte bei dem Treffen der Ukrainer-Unterstützer in Prag, dass die Krim auch zurückerobert werden müsse, um die Menschen dort von russischer Unterdrückung zu befreien. Fast zehn Jahre nach der Annexion der Krim würden die pro-ukrainischen Strömungen auf der Halbinsel inzwischen immer stärker, sagte Selenskyj. Die Atommacht Russland hatte immer wieder betont, die Krim mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Schoigu zu Stabsbesuch an der Front

Moskaus Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat nach Angaben des Militärs den russischen Soldaten in der Ukraine einen seiner seltenen Frontbesuche abgestattet. Im Gespräch mit Soldaten gab Schoigu laut einer vom Ministerium per Telegram verbreiteten Mitteilung vor, die Ukraine sei insgesamt geschwächt und habe in den letzten Wochen hohe Verluste erlitten. »Wir haben Systeme erhalten, die 24 Flugzeuge in fünf Tagen abgeschossen haben.«

Der 68-Jährige soll zudem an einer Stabsbesprechung in der »Zone der militärischen Spezialoperation« teilgenommen haben, wie offiziell mitgeteilt wurde. Dabei habe er sich unter anderem vom Befehlshaber der Heeresgruppe Ost, Generalleutnant Andrej Kusmenko, Bericht über die Schaffung von spezialisierten Drohneneinheiten erstatten lassen. Zudem sei es um die Vorbereitung auf den Winter gegangen.

Die Mitteilung des Verteidigungsministeriums ist mit einem Video unterlegt, dass Schoigu in einem Hubschrauber und später in einem Stabsbunker zeigt. Ob die Anlage tatsächlich auf von Russland besetztem ukrainischem Staatsgebiet liegt, lässt sich nicht erkennen.

16 Verletzte nach russischem Drohennagriff in Westukraine

Durch herabfallende Trümmer einer abgefangenen russischen Drohne sind im westukrainischen Gebiet Chmelnyzkyj 16 Menschen verletzt worden. »Im Landkreis Schepetiwka sind durch den Abschuss von Luftzielen diese auf das Territorium eines Objekts der kritischen Infrastruktur gestürzt«, teilte der Vizechef der Gebietsverwaltung, Serhij Tjurin, auf Telegram mit.

Es habe eine Explosion gegeben, die neben einem Verwaltungsgebäude auch Wohnhäuser und Autos beschädigt habe. Dabei seien 16 Menschen aus umliegenden Gebäuden verletzt worden. Angaben des ukrainischen Energieministeriums zufolge gab es infolge der Angriffe eine Explosion unweit des Atomkraftwerks Chmelnyzkyj. Durch die Druckwelle sollen die Fenstergläser mehrerer Verwaltungsgebäude zerstört und eine Stromleitung beschädigt worden sein. 1860 Haushalte seien ohne Strom.

Nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe hat Russland in der vergangenen Nacht elf Kamikaze-Drohnen gegen die Ukraine gestartet. Alle seien abgeschossen worden, teilte das Militär in Kiew mit.

London: Kämpfe am Fluss Dnipro werden intensiver

In der Ukraine haben die Kämpfe am Unterlauf des Dnipro nach britischer Einschätzung zuletzt zugenommen. »Die Ukraine hat Operationen in diesem Bereich höhere Priorität eingeräumt und bildet kleine Brückenköpfe am Ostufer, das es seit Sommer kontrolliert«, teilte das britische Verteidigungsministerium mit.

Russland sei aber vermutlich auf diese Angriffe vorbereitet, seitdem es seine Einheiten vor einem Jahr vom Westufer abgezogen hatte. »Erste Hinweise deuten darauf hin, dass Russland in Reichweite des Flusses über eine bedeutende Artilleriekapazität verfügt«, hieß es in London weiter. Im Einsatz sei die neu geformte russische 18. Armee.

Nur noch etwa 1000 Zivilisten in Awdijiwka

Russland setzte seinen Krieg indes unvermindert fort. In der schwer umkämpften ostukrainischen Stadt Awdijiwka befinden sich nach Angaben aus Kiew noch immer rund 1000 Zivilisten. Darunter seien keine Kinder mehr, sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk gestern im örtlichen Nachrichtenfernsehen. Sie forderte die Verbliebenen nachdrücklich dazu auf, sich in Sicherheit zu bringen. Vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte die inzwischen stark zerstörte Industriestadt im Gebiet Donezk noch über 30.000 Einwohner.

Russische Truppen sind in den vergangenen Tagen vor allem nördlich von Awdijiwka bis an eine Bahnlinie vorgerückt. Eine umkämpfte Abraumhalde der städtischen Kokerei scheint übereinstimmenden Berichten zufolge inzwischen unter russischer Kontrolle zu sein.

Ukrainische Einheiten halten demnach noch einen Verbindungskorridor von etwa zehn Kilometern Breite. Die Nachschubwege aus dem ukrainisch kontrollierten Gebiet werden ständig beschossen. Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als 20 Monaten gegen die russische Invasion. Nahe Awdijiwka verlief bereits seit 2014 die Frontlinie zu den von Moskau unterstützten Separatisten. Die russisch kontrollierte Gebietshauptstadt Donezk liegt nur wenige Kilometer südlich von Awdijiwka.

© dpa-infocom, dpa:231025-99-691475/9