Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich vor Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius zuversichtlich gezeigt, dass sein Land dem Militärbündnis nach Ende des russischen Angriffskriegs angehören wird.
»Auch wenn unterschiedliche Positionen geäußert werden, ist es immer noch offensichtlich, dass die Ukraine es verdient, im Bündnis zu sein. Nicht jetzt - jetzt ist der Krieg, aber wir brauchen ein klares Signal«, sagte Selenskyj in seiner in Kiew verbreiteten täglichen Videobotschaft. »Die Mehrheit der Allianz ist eindeutig für uns.« Das müsse der Gipfel in Litauens Hauptstadt Vilnius heute und morgen bestätigen.
»Wir arbeiten noch an der Formulierung, also an den konkreten Worten einer solchen Bestätigung, aber wir verstehen bereits, dass die Ukraine dem Bündnis beitreten wird. Wir arbeiten daran, den Algorithmus für den Beitritt so klar und schnell wie möglich zu gestalten«, sagte Selenskyj.
Er sagte, es sei ihm eine Ehre, das Land und die Ukrainer zu vertreten. Einmal mehr betonte Selenskyj auch, dass der Kampf der Ukraine im Sinne des Westens sei. Die Sicherheit der Ostflanke der Nato hänge von der Ukraine ab.
»Die russische Diktatur« habe »stets versucht, die Völker Europas zu unterwerfen«, sagte Selenskyj weiter. Die ukrainische Ostgrenze und die Stellungen der Soldaten werde Russland »nie wieder überschreiten«. Der Präsident sieht die Ukraine, wie er betonte, faktisch schon jetzt als Teil der Militärallianz. »Unsere Waffen sind die Waffen der Allianz. Unsere Werte sind das, woran die Allianz glaubt. Unsere Verteidigung ist das eigentliche Element der Formel Europas, die es einig, frei und friedvoll macht.«
Gespräche über Waffen für die Front
Selenskyj kündigte eine Reihe bilateraler Gespräche in Vilnius an, darunter mit Vertretern von EU-Staaten, den USA und Kanada. »Die Prioritäten liegen auf der Hand: Das ist Luftverteidigung für unsere Städte, für alle Gemeinden im ganzen Land, wir arbeiten auch an der Schaffung eines vollwertigen Raketenschutzschildes.« In Vilnius werde es zudem Gespräche über Waffen für die Front gehen. »Natürlich werden wir auch über andere Aspekte des Schutzes von Leben und unserer gemeinsamen Sicherheit sprechen«, sagte Selenskyj. »Ich bin sicher, dass es für unsere Soldaten aus Vilnius gute Nachrichten zur Bewaffnung geben kann.«
Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als 500 Tagen gegen Russlands Angriffskrieg. Moskau hatte die Invasion am 24. Februar 2022 auch damit begründet, einen Nato-Beitritt des Nachbarlandes verhindern zu wollen.
Zweitägiger Nato-Gipfel in Litauen beginnt
Mit Beratungen über die weitere Unterstützung der Ukraine und den Ausbau der Abschreckung und Verteidigung gegen Russland beginnt heute der zweitägige Nato-Gipfel in Litauen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg will bei dem Spitzentreffen ein klares Signal an Russlands Präsidenten Wladimir Putin aussenden: Dass der Krieg gegen die Ukraine zum Scheitern verurteilt ist und jede Aggression gegen einen Nato-Staat eine entschlossene Reaktion des gesamten Bündnisses zur Folge hätte.
Insbesondere auf den Wunsch der USA hin soll es zudem auch Gespräche über den weiteren Umgang mit China geben. In Washington wird die Politik Pekings zunehmend auch als Sicherheitsgefahr gesehen. US-Präsident Joe Biden landete gestern Abend in Vilnius.
Neben Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz sowie den anderen Staats- und Regierungschefs der 31 Nato-Staaten werden zu dem Treffen in Vilnius zahlreiche weitere Gäste erwartet. Mit Selenskyj soll am Mittwoch über eine noch engere Zusammenarbeit beraten werden. Thema dürften zudem die Hoffnungen der Ukraine auf einen Nato-Beitritt sein. Selenskyj wünschte sich eine konkrete Einladung für sein Land, weiß aber, dass er sie wegen des Widerstands von Ländern wie Deutschland und den USA erst einmal nicht bekommen wird.
Ukraine fordert von Bundesregierung Unterstützung bei Nato-Beitritt
Dessen ungeachtet forderte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba die Bundesregierung zur Aufgabe ihrer Blockade eines schnellen Nato-Beitritts seines Landes auf. »Ich rufe die deutsche Regierung auf, diese Fehler von (Kanzlerin Angela) Merkel aus dem Jahr 2008 nicht zu wiederholen«, sagte der Diplomat gestern in einem Interview der ARD-»Tagesthemen«. Es gebe bereits jetzt eine große Mehrheit von Nato-Mitgliedern, die eine schnellere Aufnahme der Ukraine unterstützten.
Beim Gipfel der Militärallianz 2008 in Bukarest hatten Deutschland und Frankreich sich zwar gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen. Dennoch wurde dem Land eine Beitrittsperspektive gewährt. Kiew hat das Ziel des Beitritts zum Militärbündnis 2019 in der Verfassung verankert.
Nato-Staaten billigen neue Abwehrpläne gegen Russland
Vor ihrem Gipfel verständigten sich die Nato-Staaten auf neue Pläne für die Abwehr möglicher russischer Angriffe auf das Bündnisgebiet. Die Annahme der Dokumente erfolgte gestern in einem schriftlichen Verfahren, wie die Deutsche Presse-Agentur von mehreren Diplomaten erfuhr. Die Entscheidung soll heute von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.
Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben den klassischen Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.
Bereits beim Nato-Gipfel im vergangenen Jahr hatte Generalsekretär Stoltenberg angekündigt, dass künftig 300.000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche Nato-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der Nato für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit circa 40.000 Soldatinnen und Soldaten.
Was heute wichtig wird
In der Ukraine setzen die Streitkräfte ihre Gegenoffensive fort, um von Russland besetzte Landesteile zu befreien. Dabei stoßen die ukrainischen Truppen etwa nahe der von russischen Truppen kontrollierten Stadt Bachmut im Gebiet Donezk vor, aber auch an anderen Frontabschnitten.
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