Mitten in der Anfangsphase der ukrainischen Gegenoffensive ist ein Machtkampf zwischen russischer Militärführung und der Söldnertruppe Wagner eskaliert. Prigoschin besetzte mit seiner Truppe nach eigenen Angaben wichtige militärische Objekte in Rostow am Don im Süden Russlands.
Russlands Präsident Wladimir Putin sprach angesichts des bewaffneten Aufstands von »Verrat« und rief zur Ausschaltung der Drahtzieher auf. Die Streitkräfte hätten den Befehl erhalten, die Organisatoren ihrer »unausweichlichen Bestrafung« zuzuführen, sagte der Kremlchef am Samstag in einer Fernsehansprache an die Nation.
In Moskau und Umgebung gilt bereits der Anti-Terror-Notstand. »Um mögliche Terroranschläge in der Stadt und dem Gebiet Moskau zu verhindern, ist ein Regime für Operationen zur Terrorbekämpfung eingeführt worden«, teilte das nationale Anti-Terror-Komitee mit. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft.
Gouverneur: Kämpfe in russischem Gebiet Woronesch
Behörden meldeten unterdessen Kämpfe im Gebiet Woronesch im Südwesten des Landes. »Im Rahmen einer Anti-Terror-Operation führen die Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Region Woronesch notwendige operativ-kämpferische Maßnahmen durch«, schrieb Gouverneur Alexander Gussew auf Telegram. »Ich werde weiter über die Entwicklung der Lage informieren.« Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.
Gussew erläuterte nicht konkret, gegen wen die Armee im Gebiet Woronesch kämpft. Zuvor hatte es allerdings Berichte gegeben, dass die aufständischen Wagner-Kämpfer dort einzelne militärische Einrichtungen besetzt hätten. Das gleichnamige Gebietszentrum ist rund 470 Kilometer von der Hauptstadt Moskau entfernt. Es liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen Moskau und Rostow am Don, wo Aufständische Militäreinrichtungen besetzt haben.
Wenig später berichtete der Gouverneur zudem von einem brennenden Tanklager. Rund 100 Feuerwehrleute seien an den Löscharbeiten beteiligt. Ob es einen Zusammenhang zu den Kampfhandlungen gab, war zunächst unklar.
Ermittlungen gegen Prigoschin
Nach schweren Anschuldigungen des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und einer Drohung, in der russischen Militärführung aufzuräumen, hatten russische Strafverfolgungsbehörden gestern Abend Ermittlungen gegen Prigoschin wegen versuchten bewaffneten Aufstands eingeleitet. In der Ukraine gab es gleichzeitig im ganzen Land Luftalarm, mehrere Städte meldeten Beschuss und Einschläge.
Dem 61-jährigen Prigoschin drohen laut Generalstaatsanwaltschaft zwischen 12 und 20 Jahren Freiheitsstrafe. Er hatte gestern die Militärführung beschuldigt, ein Lager seiner Söldnertruppen mit Artillerie, Hubschraubern und Raketen angegriffen und dabei viele seiner Männer getötet zu haben. Dabei drohte er mit Gegenmaßnahmen. Er habe 25.000 Männer unter Befehl, die nun aufklären würden, warum solch eine Willkür im Land herrsche.
Prigoschin: »Wir sind alle bereit, zu sterben«
Prigoschin behauptete in einer Audionachricht, seine Männer hätten einen Militärhubschrauber abgeschossen, der auf einen zivilen Konvoi geschossen habe. Eine unabhängige Bestätigung dafür gab es nicht. Er warnte erneut, dass die Wagner-Söldner alle, die sich gegen sie stellten, als Bedrohung auffassen würden. »Wir haben ein Ziel, wir sind alle bereit, zu sterben«, sagte er. In sozialen Medien wurden zudem am frühen Morgen Videos geteilt, die zeigen sollen, wie Wagner-Kämpfer das Militärhauptquartier in Rostow am Don umstellen sollen und schweres militärisches Gerät darauf richten. Dies konnte bislang nicht unabhängig bestätigt werden.
In der Ukraine waren die Berichte über den internen Machtkampf mit Genugtuung und Spott aufgenommen worden. Die ukrainische Armee schrieb auf Twitter: »Wir schauen zu.«
Selenskyj lobt westliche Hilfe und schimpft auf Korruption
In seiner allabendlichen Videoansprache, die gestern noch vor den Ereignissen in Russland veröffentlicht wurde, bezeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Londoner Konferenz für den Wiederaufbau seines Landes als Erfolg. Es gebe langfristige Hilfsprogramme von westlichen Staaten und die Ukraine werde zunehmend als künftiges EU-Land wahrgenommen, lobte er. Zudem sei es auch gelungen, neben staatlichen Akteuren Konzerne zu beteiligen. »Etwa 500 globale, starke Unternehmen sind an Investitionen in der Ukraine interessiert«, sagte Selenskyj.
Tote und Verletzte nach Raketenangriff auf Kiew
Bei einem russischen Raketenangriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew wurden in der Nacht zum Samstag drei Menschen getötet und elf weitere verletzt. Das teilte die dortige Staatsanwaltschaft mit. Infolge des Angriffs seien ein Wohn-Hochhaus im Solomjanskyj-Viertel getroffen und drei Stockwerke beschädigt worden. Durch die Druckwelle seien auch Dutzende geparkte Autos beschädigt worden. Die Rettungsarbeiten dauerten an.
Der Angriff mit zahlreichen Opfern war eine der folgenschwersten russischen Attacken auf Kiew in jüngster Zeit. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen auf. Kiew wird seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vor 16 Monaten immer wieder von russischer Seite mit Raketen und Drohnen angegriffen. Viele der Flugkörper konnte die ukrainische Flugabwehr abwehren.
Korruptionsverdacht: Selenskyj entlässt Militärbeamten
Selenskyj forderte die Entlassung eines Militärbeamten, der sich zu Kriegszeiten Immobilien in Spanien gekauft haben soll. Einer Mitteilung des Präsidialamts zufolge wurde Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj die »unverzügliche« Anweisung gegeben, den Chef des Kreiswehrersatzamtes Odessa zu entlassen, »über den das ganze Land redet«. Am Donnerstag hatte die Internetzeitung Ukrajinska Prawda berichtet, dass Familienmitglieder des Militärbeamten Immobilien für über drei Millionen Euro an der spanischen Küste und Luxusautos gekauft hätten.
Seit knapp 16 Monaten wehrt die Ukraine eine russische Invasion ab. Seitdem gelten eine Generalmobilmachung und eine Ausreisesperre für Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Viele kaufen sich jedoch bei Musterungsärzten und den Kreiswehrersatzämtern frei oder fliehen gegen Schmiergeldzahlung aus dem Land. Berichten des Geheimdienstes SBU zufolge sollen dafür jeweils mehrere Tausend Euro gezahlt werden. Gemäß der Nichtregierungsorganisation Transparency International gehört die Ukraine zu den korruptesten Länder Europas.
Bericht: Russland errichtet provisorische Brücke zur Krim
Nach der Beschädigung der wichtigen Tschonhar-Brücke vom ukrainischen Festland zur Halbinsel Krim durch Kiews Militär soll Russland dort laut Medienberichten einen Ponton-Übergang errichtet haben. Ein solche Schwimmbrücke sei auf den vom US-Unternehmen Planet Labs zur Verfügung gestellten Satellitenfotos erkennbar, berichtete ein ukrainisches Investigativteam von Radio Swoboda, dem ukrainischsprachigen Dienst des US-Auslandssenders Radio Liberty.
Die Brücke ist eine von drei Anfahrtsrouten von der russisch besetzten Halbinsel Krim ins nördlicher gelegene und ebenfalls zu Teilen okkupierte Gebiet Cherson. Sie gilt als Teil einer für die Russen wichtigen Nachschubroute, um die eigenen Truppen an der Front zu versorgen.
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