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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Die ukrainische Gegenoffensive verläuft nach Ansicht Kiews langsamer als erhofft. Unterdessen sterben durch russischen Beschuss Zivilisten in der südukrainischen Stadt Cherson. Der Überblick.

Kiew
Ukrainische Militärseelsorger nehmen an einer Abschlussfeier in der Sophienkathedrale teil. Foto: Andrew Kravchenko/DPA
Ukrainische Militärseelsorger nehmen an einer Abschlussfeier in der Sophienkathedrale teil.
Foto: Andrew Kravchenko/DPA

Die politische Führung in Kiew hat die bisher geringen Fortschritte der ukrainischen Gegenoffensive mit dem Zögern des Westens bei Waffenlieferungen erklärt. Nach Angaben des Befehlshabers der ukrainischen Landstreitkräfte steht der Hauptangriff aber erst noch bevor. Unterdessen wurden durch russischen Beschuss auf die südukrainische Stadt Cherson drei Zivilisten getötet, wie örtliche Verwaltung mitteilte.

In Russland wiederum geht der Machtkampf zwischen dem Verteidigungsministerium und der Privatarmee Wagner in eine neue Runde: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin kritisierte die Militärführung einmal mehr mit drastischen Worten - und widersprach zudem zentralen Behauptungen der russischen Propaganda.

Kiew: Zögern des Westens kostete wertvolle Zeit

»Die bei der Überzeugung der Partner verlorene Zeit, die notwendigen Waffen zu liefern, spiegelt sich im konkreten Ausbau russischer Befestigungen wider«, schrieb der Berater im Präsidentenbüro, Mychajlo Podoljak, am Freitag beim Kurznachrichtendienst Twitter. Die Russen hätten sich tiefer eingegraben und ein System von Minenfeldern angelegt.

Ein Durchbrechen der russischen Frontlinien erfordere nun einen »klugen und überlegten Ansatz«. »Das Leben des Soldaten ist der höchste Wert für die Ukraine«, unterstrich Podoljak.

Vor etwa drei Wochen begann die ukrainische Armee ihre lang erwartete Offensive gegen die vor knapp 16 Monaten einmarschierten russischen Truppen. In dieser Zeit sind Kiewer Angaben nach in der Südostukraine acht Dörfer und rund 113 Quadratkilometer befreit worden. Medienberichten zufolge erlitten beide Seiten hohe Verluste an Menschen und Material. Kiew strebt eine Rückeroberung aller seiner Gebiete in den Grenzen von 1991 an.

Kleinere Geländegewinne im Süden

Die ukrainische Armee bekräftigte am Freitag, im Zuge ihrer Gegenoffensive kleinere Geländegewinne im Süden des Landes gemacht zu haben. In der Region Saporischschja sollten nun befreite Positionen an den Stoßrichtungen Berdjansk und Melitopol verstärkt werden, teilte der ukrainische Generalstabssprecher Andrij Kowaljow mit. Im Osten des Landes wurden derweil laut Verteidigungsministerium zwei russische Angriffe aufgehalten.

Die ukrainischen Verteidiger hätten die Vorstöße des Feindes bei Lyman und Kupjansk gestoppt, schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar auf Telegram. Zu Beginn der Woche hatte Maljar gesagt, Russland versuche, bei Kupjansk im Gebiet Charkiw und bei Lyman im angrenzenden Luhansker Gebiet, die Initiative zurückzugewinnen. Auch im östlichen Gebiet Donezk halten demnach schwere Kämpfe an.

Hauptangriff ukrainischer Gegenoffensive noch nicht erfolgt

Dem Befehlshaber des ukrainischen Heeres, Olexander Syrskyj zufolge ist der Hauptangriff der Gegenoffensive noch nicht erfolgt. »Die Hauptstreitkraft ist noch nicht an den Kampfhandlungen beteiligt und wir suchen und testen jetzt Schwachstellen in der Verteidigung des Gegners«, sagte Syrskyj der britischen Zeitung »Guardian« am Freitag.

Drei Tote durch russischen Beschuss im Flutgebiet in Cherson gemeldet

In der südukrainischen Stadt Cherson wurden laut dortigen Behörden mindestens drei Mitarbeiter eines städtischen Transportunternehmens durch russischen Beschuss getötet. Drei weitere Menschen seien verletzt ins Krankenhaus gebracht worden, wie die Militärverwaltung am Freitag auf Telegram berichtete.

Die Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets Cherson kämpft unter andauernden russischen Angriffen seit Wochen mit den Flutfolgen nach der Zerstörung des nahe gelegenen Kachowka-Staudamms. Alleine am Donnerstag waren dort laut Militärverwaltungs-Chef Olexander Prokudin 26 Mal russische Geschosse in der Stadt eingeschlagen. Sieben Menschen seien dabei verletzt worden.

Noch immer keine Klarheit über Opferzahl nach Dammbruch

Der Damm in der von russischen Truppen besetzten und unmittelbar an der Front gelegenen Stadt Nowa Kachowka war am 6. Juni zerstört worden. Daraufhin strömten riesige Wassermassen aus dem angrenzenden Stausee aus. Viele Orte wurden überschwemmt. Die Ukraine ist überzeugt, dass Russland das Bauwerk absichtlich gesprengt hat. Auch viele internationale Experten halten das für wahrscheinlich. Moskau dementiert den Vorwurf.

Die russischen Besatzer sprachen zuletzt von 46 Toten auf der Südseite des Flusses Dnipro. Da es kaum unabhängige Informationen aus dem besetzten Gebiet gibt, werden dort allerdings deutlich mehr Opfer befürchtet. Auf der ukrainisch kontrollierten Seite starben offiziellen Angaben zufolge bislang mindestens 21 Menschen, 5 davon durch russischen Beschuss.

Prigoschin widerspricht offiziellen russischen Kriegsvorwänden

Der Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, wetterte erneut heftig gegen die Militärführung in Moskau - und stellte deren offizielle Kriegsgründe infrage. Entgegen der russischen Propaganda-Behauptung sagte Prigoschin, Russland sei vor Kriegsbeginn im Februar 2022 überhaupt nicht durch die Ukraine gefährdet gewesen. Die angeblich »wahnsinnige Aggression« vonseiten Kiews und der Nato habe es so nie gegeben.

Dann fügte der berüchtigte Söldnerchef hinzu: »Der Krieg war notwendig, damit Schoigu den Titel eines Marschalls erhält. (...) Und nicht, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren.« Außerdem hätten sich russische und prorussische Oligarchen Vorteile von dem Krieg erhofft, sagte Prigoschin.

Russland rechtfertigt seinen brutalen Krieg immer wieder mit der Propaganda-Behauptung, das Nachbarland von angeblichen »Neonazis« zu befreien. Ein weiterer Kriegsvorwand ist die durch nichts belegte Behauptung, Kiew hätte Moskau mithilfe der Nato angreifen wollen.

Rheinmetall liefert der Ukraine 20 weitere Panzer in diesem Sommer

Der Rüstungskonzern Rheinmetall will 20 weitere Schützenpanzer Marder noch in diesem Sommer an die Ukraine liefern. Einen entsprechenden Zeitplan für einen bereits Anfang Juni bekanntgegebenen Auftrag bekräftigte das Unternehmen am Freitag in Düsseldorf. Der Bund bezahlt dafür einen unteren zweistelligen Millionen-Euro-Betrag. Damit hätte die Ukraine insgesamt 60 Marder bekommen: 40 von Rheinmetall und 20 aus Bundeswehr-Beständen. 60 weitere bietet Rheinmetall an, hierzu laufen in den Werken Unterlüß (Niedersachsen) und Kassel (Hessen) bereits Arbeiten. Von diesen 60 könnten pro Monat bis zu 10 fertig werden, heißt es von der Firma.

IAEA-Chef in Russland: Suche nach Lösung für AKW Saporischschja

Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, verhandelte mit russischen Offiziellen über den Schutz des von Moskau kontrollierten südukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja. »Ein Treffen zum richtigen Zeitpunkt«, urteilte Grossi anschließend auf seinem Twitter-Kanal über die Gespräche in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad, ohne inhaltliche Details zu nennen. Das Kernkraftwerk Saporischschja liegt nahe der Front und ist in der Vergangenheit mehrfach unter Beschuss geraten, was international die Sorge um einen Atomunfall steigen ließ. Moskau und Kiew werfen sich gegenseitig vor, dort eine Atomkatastrophe zu provozieren.

Russland habe die IAEA zu konkreten Schritten aufgefordert, um den Beschuss der Nuklearanlage durch ukrainische Truppen zu verhindern, teilte die russische Atombehörde Rosatom nach den Gesprächen mit Grossi mit. Rosatom-Chef Alexej Lichatschow habe seinerseits Grossi über die von Russland getroffenen Maßnahmen zur Sicherheit der Anlage informiert, hieß es.

© dpa-infocom, dpa:230623-99-157223/7