Kiew will an der seit Monaten umkämpften ostukrainischen Stadt Bachmut trotz fast vollständiger Einkreisung vorerst weiter festhalten. Das teilte die ukrainische Regierung nach einer Lagebesprechung zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj, Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj und dem Chef der Landstreitkräfte Olexander Syrskyj mit.
Die beiden Militärs sprachen sich demnach für »die Fortsetzung der Verteidigungsoperation und die weitere Stärkung unserer Positionen in Bachmut aus«, hieß es weiter. Die Mitteilung könnte Beobachtern zufolge eine Reaktion sein auf unter anderem von der »Bild«-Zeitung veröffentlichte Gerüchte über ein Zerwürfnis zwischen Selenskyj und Saluschnyj über das Vorgehen in Bachmut.
Seit Monaten wird um Bachmut gekämpft, wo vor dem Krieg etwa 74.000 Einwohner lebten. Die Stadt, in deren Ruinen nach offiziellen Angaben noch etwa 5000 Zivilisten ausharren, wurde dabei praktisch komplett zerstört. Der strategische Wert Bachmuts ist nach der Vertreibung der russischen Truppen aus dem Gebiet Charkiw gering. Für die russische Militärführung hat die Einnahme aber große Symbolkraft, da sie Erfolge vorweisen muss. Die ukrainische Seite hielt Bachmut lange, da die gut ausgebauten Stellungen in der Stadt es ermöglichten, den Angreifern hohe Verluste bei ihrem langsamen Vormarsch zuzufügen.
Ukrainischer Teilrückzug aus Bachmut möglich
Nach Einschätzung von Militärbeobachtern könnte Kiew aber seine Streitkräfte zumindest aus Teilen Bachmuts abziehen. »Die ukrainischen Kräfte könnten sich, angesichts der durch Bilder mit Geolocation bestätigten Zerstörung der Eisenbahnbrücke über den Fluss im Nordosten von Bachmut am 3. März, von ihren Positionen am Ostufer des Bachmutka-Flusses zurückziehen«, schrieb das in den USA ansässige Institut für Kriegsstudien (ISW). Russischen Militärbloggern zufolge nahm die dort kämpfende Söldnertruppe Wagner inzwischen Teile im Osten, Süden und Norden Bachmuts ein.
Streit zwischen Wagner-Truppe und russischem Militär hält an
Unterdessen schwelt der Konflikt zwischen der Söldnertruppe und dem russischen Verteidigungsministerium weiter. Bei neuerlich aufgetauchten Berichten über eine angebliche Drohung von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, seine vor Bachmut kämpfende Einheit abzuziehen und damit einen Zusammenbruch der Front zu provozieren, handelt es sich wohl um eine ältere Äußerung des Oligarchen. Sie soll auf dem Höhepunkt des Konflikts vor ein paar Wochen gefallen sein, als sich die Söldner über unzureichende Munitionsversorgung durch das Ministerium beschwerten.
Dass es weiter Streit gibt, bestätigte Prigoschin allerdings auf dem Telegram-Kanal seines Pressedienstes. Seinem Vertreter sei mit Montagmorgen der Zugang zum Stab der Heeresgruppe verwehrt worden, klagte er. Von einem Rückzug seiner Einheiten sprach er allerdings nicht. »Wir werden weiterhin die ukrainischen Streitkräfte bei Bachmut vernichten«, sagte er.
Kiew entsetzt über Erschießungsvideo
Mit Entsetzen hat die ukrainische Führung auf ein Video von einer mutmaßlichen Erschießung eines Kriegsgefangenen durch russische Soldaten reagiert. »Kriegsverbrechen werden in Russland kultiviert«, schrieb der Chef des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, im Nachrichtenkanal Telegram. Es sei ein Beispiel für die Schwäche der Russen.
»Für jedes dieser Kriegsverbrechen wird es eine Strafe geben. Niemand kann sich dieser entziehen«, sagte der Vertraute von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Außenminister Dmytro Kuleba sagte Journalisten, er sei nach Ansehen des Videos niedergeschlagen.
Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, bezeichnete die gefilmte mutmaßliche Erschießung als »Ausdruck von Niedertracht und Gemeinheit«. Die Tötung von Gefangenen sei ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen, betonte der 41-Jährige. Er habe das Video seinen internationalen Kollegen als Beleg für ein »weiteres Kriegsverbrechen Russlands« geschickt. Die Echtheit des Videos war von unabhängiger Seite zunächst nicht überprüfbar.
Zuvor war unter anderem von dem Internetportal Ukrajinska Prawda ein Video veröffentlicht worden, bei dem ein Mann in ukrainischer Uniform »Ruhm der Ukraine« ruft und dann mutmaßlich mit mehreren Schüssen getötet wird.
Ukraine meldet nächtliche Drohnen- und Raketenangriffe
Das russische Militär hatte laut Kiewer Angaben die Ukraine in der Nacht zum Montag erneut mit zahlreichen Angriffen aus der Luft überzogen. »Es wurden Drohnen aus nördlicher Richtung gestartet«, sagte der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte Jurij Ihnat im Fernsehen. Seinen Angaben zufolge konnte die Flugabwehr 13 der insgesamt 15 Drohnen abschießen.
Aus der ostukrainischen Stadt Kramatorsk wurden mehrere Einschläge gemeldet. Demnach wurde die unter ukrainischer Kontrolle stehende Großstadt im Gebiet Donezk mit Raketen beschossen. »Die Folgen des nächtlichen Raketenangriffs - eine Schule wurde zerstört und 15 Mehrfamilienhäuser beschädigt«, teilte der Bürgermeister mit. Demnach wurde niemand verletzt oder getötet.
Kurzzeitig wurde am Montagmorgen erneut landesweit der Luftalarm ausgelöst. Später gab es Entwarnung. Seit Herbst überzieht das russische Militär die Ukraine regelmäßig mit massiven Raketen- und Drohnenangriffen. Die meisten Attacken richten sich gegen Energieanlagen. Millionen Ukrainer sind so gezwungen, im Winter über längere Zeit ohne Strom- und teilweise auch ohne Wasser- und Wärmeversorgung auszukommen.
Melnyk fordert Ja der SPD zur Lieferung von Kampfjets
Der ukrainische Vizeaußenminister Andrij Melnyk forderte die SPD-Spitze anlässlich ihres Besuchs in Kiew auf, Taten folgen zu lassen. Er hoffe, dass SPD-Chef Lars Klingbeil »die Notwendigkeit erkennen wird, die Bundesregierung dazu zu bewegen, weitere mutige Entscheidungen zu treffen, vor allem Kampfjets freizugeben«, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. Klingbeil war am Montag gemeinsam mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich überraschend zu einem Besuch in Kiew eingetroffen, um Gespräche mit Vertretern von Regierung und Parlament zu führen.
An der Diskussion um die Lieferung von Kampfjets wollten sich bisher weder die SPD noch die Bundesregierung beteiligen. »Die Debatte macht keinen Sinn«, hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Februar gesagt. Mehrere Nato-Staaten haben sich allerdings für einen solchen Schritt offen gezeigt.
Russlands Verteidigungsminister Schoigu besucht Mariupol
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat nach offiziellen Angaben die ukrainische Hafenstadt Mariupol besucht, die im Frühjahr 2022 bei der Eroberung durch Moskauer Truppen zerstört wurde. Schoigu habe während seiner Inspektionsreise durch den Donbass in Mariupol die Arbeit der Baubrigaden kontrolliert, teilte das russische Verteidigungsministerium auf seinem Telegram-Kanal mit.
Auf den Videoaufnahmen ist der 67-Jährige unter anderem in einem neu gebauten Lazarett und vor dem Gebäude des Zivilschutzes zu sehen. Die Bilder sollen wohl die Aktivität und Fürsorge der russischen Führung demonstrieren. Zuletzt mehrte sich Kritik, die Verantwortlichen in Moskau führten den Krieg nur aus ihren Kabinetten und kümmerten sich nicht um die Sorgen der Soldaten und der örtlichen Bevölkerung, die Russland nach eigenem Verständnis befreit hatte.
Ukraine: Mehr als 300 Kinder zurückgeholt
Die Ukraine hat nach offiziellen Angaben seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor einem Jahr mehr als 300 Kinder aus russisch kontrollierten Gebieten zurückgeholt. Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, berichtete von insgesamt 307 Fällen. Darunter sei auch ein erst acht Jahre alter Junge, der nun bei seiner Großmutter sei. Details nannte Lubinez nicht - auch nicht dazu, von wo genau und auf welche Weise die Minderjährigen zurückgeholt wurden.
Die Ukraine wirft Russland vor, seit dem Einmarsch immer wieder Kinder aus dem Kriegsgebiet gewaltsam zu verschleppen und »russifizieren« zu wollen. Insgesamt wurden Angaben aus Kiew zufolge 14.000 ukrainische Kinder nach Russland gebracht. Moskau weist den Vorwurf zurück und spricht davon, dass die Kinder vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht würden.
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