Die russische Armee rechnet mit einem massiven ukrainischen Angriff zur Befreiung der besetzten Stadt Cherson. »An diesem Frontabschnitt ist die Lage schwierig«, sagte der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin, im Fernsehen.
Es war ein ungewöhnlicher Auftritt des Armeegenerals, der sogar nahezulegen schien, dass Russland einen Rückzug aus der Stadt erwägen könnte. Surowikin sagte, dass »schwierige Entscheidungen« notwendig sein könnten.
Am Mittwoch meldeten die russischen Besatzer bereits ukrainische Angriffe auf das Gebiet Cherson. Die Ukrainer seien in Richtung der Orte Nowa Kamjanka und Beryslaw in die Offensive gegangen, schrieb der Vizechef der Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow, auf Telegram. Alle Angriffe seien abgewehrt worden. Am Morgen hatte Stremoussow mitgeteilt, die ukrainische Armee habe Zehntausende Soldaten an der Front zusammengezogen.
Russische Besatzer siedeln Ukrainer aus Gebiet Cherson aus
Die russische Besatzungsmacht siedelte nach eigenen Angaben bereits 7000 Zivilisten auf sicher von Russland kontrolliertes Territorium aus. Das sagte Verwaltungschef Wladimir Saldo am Mittwoch russischen Agenturmeldungen zufolge. Diese Maßnahme wird durch den von Putin verhängten Kriegszustand in der Region erleichtert. Unabhängig zu überprüfen waren die Angaben nicht.
Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine schlüssigen Angaben. Kiew erklärte am Vormittag nur, im Gebiet Cherson einen russischen Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 abgeschossen zu haben. Der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, warf den russischen Besatzern vor, die Menschen in Cherson durch »gefälschte Nachrichten« über ukrainische Angriffe auf die Stadt einschüchtern zu wollen.
Russland berichtete auch von ukrainischen Angriffen auf ein Verwaltungsgebäude der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja. Zudem sei ein ukrainischer Versuch abgewehrt worden, das russisch besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern.
Explosionsgeräusche in Kiew
Die Ukraine berichtete ihrerseits von russischen Angriffen hinter der Front, so etwa im Gebiet Winnyzja. Auch in Kiew waren Explosionsgeräusche zu hören, wie eine dpa-Reporterin in der Hauptstadt berichtete. Laut Gebietsgouverneur Olexij Kuleba war die ukrainische Luftabwehr aktiv. Die ukrainischen Streitkräfte erklärten, Russland habe vom Gebiet seines Verbündeten Belarus aus Raketen und Kampfdrohnen Richtung Kiew geschossen. Erneut gab es zwischenzeitlich im ganzen Land Luftalarm.
Der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, sprach von acht russischen Raketen auf seine Stadt. Mehr als 150.000 Einwohner von Charkiw - vor dem Krieg mit mehr als einer Million Einwohnern zweitgrößte Stadt nach Kiew - hätten kein Dach über dem Kopf. Viele seien geflohen.
Seit Tagen überzieht Russland das Nachbarland wieder großflächig mit Raketen- und Drohnenbeschuss und zielt dabei nach eigenen Angaben vor allem auf Energieinfrastruktur. Getroffen wurden aber auch Wohnhäuser. Angaben aus Kiew zufolge starben infolge der jüngsten Angriffswelle bereits mehr als 70 Menschen.
Von der Leyen spricht von Kriegsverbrechen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wertete die russischen Attacken auf die Energieversorgung als Kriegsverbrechen. »Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen - mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden - sind reine Terrorakte«, sagte sie in Straßburg. Gerade jetzt müsse man auf Kurs bleiben und der Ukraine weiter beistehen.
Die Europäische Union arbeitet auch an weiteren Sanktionen gegen den Iran, weil dieser Russland Drohnen für Angriffe auf die Ukraine geliefert haben soll. Dafür habe man nun genügend Beweise gesammelt, sagte eine Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte den Einsatz der Waffen aus Teheran am Dienstagabend eine Bankrotterklärung des Kremls. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in Berlin, mit Luftabwehrwaffen aus dem Ausland werde die Ukraine sich bald gegen die Drohnenangriffe wehren können.
SPD-Chef Lars Klingbeil bekräftigte, mit der Unterstützung für die Ukraine gehe es darum, deren Recht auf Selbstverteidigung zu unterstützen und ihre Verhandlungsposition zu stärken. »Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern irgendwann am Verhandlungstisch entschieden wird«, sagte Klingbeil dem Portal »Web.de News«. Die Bedingungen dafür lege die Ukraine fest. »Es geht jetzt darum, dass wir mit unserer Unterstützung Putin deutlich machen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen wird«, sagte der SPD-Vorsitzende.
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