Am 233. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat es von den Fronten im Süden und Osten des Landes gegensätzliche Angaben zum Kampfgeschehen gegeben. Im Süden bei der Stadt Cherson riefen die Besatzer Zivilisten angesichts der ukrainischen Gegenoffensive zur Flucht auf. Im Gebiet Donezk in der Ostukraine rückten hingegen russische Verbände weiter auf die Stadt Bachmut vor, wie das britische Verteidigungsministerium unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mitteilte. Russland setzte auch am Freitag seine Luftangriffe auf Städte und Infrastruktur in der Ukraine fort.
Putin: Verfehlte Angriffsziele in Ukraine werden »nachgeholt«
Nach den verheerenden Angriffen auf weite Teile der Ukraine zum Wochenbeginn drohte Russlands Präsident Wladimir Putin nun weiteren Beschuss an. Von insgesamt 29 ins Visier genommenen Objekten seien sieben »nicht so beschädigt worden, wie das vom Verteidigungsministerium geplant war«, sagte er am Freitag zum Abschluss eines Gipfels in der kasachischen Stadt Astana in Zentralasien. »Aber sie werden sie nachholen, die Objekte.« Um welche Ziele es sich dabei konkret handele, sagte der Kremlchef nicht. Russland hatte am Montag mehr als 80 Raketen auf die Ukraine abgefeuert - darunter auch auf die Hauptstadt Kiew. Die Angriffe zielten offenbar vor allem auf die Energieinfrastruktur.
Neue Luftangriffe gab es am Freitag unter anderem im ostukrainischen Gebiet Charkiw, wo die Ukrainer erst vor einigen Wochen große Territorien zurückerobert hatten. Medien und Anwohner berichteten von Explosionen. Angaben zu möglichen Opfern gab es zunächst nicht.
Schon 222.000 russische Reservisten einberufen
Putin kündigte an, die laufende Teilmobilmachung von Reservisten werden in den kommenden zwei Wochen abgeschlossen. Bisher seien 222.000 Rekruten von insgesamt 300.000 einberufen worden. Davon seien bereits 16 000 Männer im Kampfeinsatz. In Russland hatte die Maßnahme Panik und eine Massenflucht in angrenzende Ex-Sowjetstaaten wie Georgien und Kasachstan ausgelöst.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Moskau vor, viele der gerade erst eingezogene Reservisten als Kanonenfutter zu verheizen. Zugleich räumte er ein, dass seine Soldaten durch die zusätzlichen russischen Soldaten unter Druck geraten seien. Kremlchef Putin hatte im September die Teilmobilmachung angeordnet, um die hohen Verluste in der Ukraine auszugleichen.
Russische Besatzer in Cherson rufen Zivilisten zur Flucht auf
Unter dem zunehmenden Druck der ukrainischen Gegenoffensiven riefen die russischen Besatzer im Gebiet Cherson Zivilisten zur Flucht auf. Zu ihrer eigenen Sicherheit werde den Menschen empfohlen, nach Russland auszureisen, schrieb der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef Kirill Stremoussow auf Telegram. Die britische »Financial Times« berichtete unter Berufung auf nicht näher genannte westliche Militärexperten, die ukrainischen Truppen könnten möglicherweise schon in der kommenden Woche in Cherson bis zum Fluss Dnipro durchstoßen.
London: Russen rücken langsam auf Bachmut vor
Russische Truppen konnten bei ihrem seit Wochen laufenden Angriff auf die ostukrainische Stadt Bachmut nach britischer Einschätzung leichte Fortschritte erzielen. Einheiten seien offenbar in die Dörfer Opytne und Iwanhrad südlich von Bachmut vorgerückt, teilte das Verteidigungsministerium in London unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Auch die Söldnergruppe Wagner sei an den Kämpfen beteiligt. Allerdings hätten die Russen seit Anfang Juli kaum Siedlungen erobert, hieß es in London weiter. Russland wolle eine Einnahme von Bachmut wahrscheinlich als Auftakt zu einem Angriff auf das Gebiet um Kramatorsk und Slowjansk nutzen.
Satelliten-Internet für Ukraine gefährdet
Unterdessen warnte Elon Musks Raumfahrtfirma SpaceX einem US-Medienbericht zufolge, dass sie womöglich nicht länger die Kosten für den kriegswichtigen Betrieb ihres Satelliten- Internetdienstes in der Ukraine übernehmen könne. Er dient Zivilisten und dem ukrainischen Militär als zentrales Kommunikationsmittel in den vom Krieg verwüsteten Gebieten.
Atomwaffen: Borrell warnt russische Armee vor Vernichtung
Für großes Aufsehen sorgte eine Warnung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, die russische Armee müsse im Fall eines Atomwaffeneinsatzes durch Moskau mit ihrer Vernichtung rechnen. Der Auswärtige Dienst der EU wollte die Worte Borrells am Freitag nicht weiter konkretisieren. Es sei klar, dass Europa und seine Verbündeten auf den Einsatz von Atomwaffen reagieren müssten, sagte eine Sprecherin. Borrell hatte zu russischen Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz gesagt: »Auf jeden nuklearen Angriff auf die Ukraine wird es eine Antwort geben - keine nukleare Antwort, aber eine so kraftvolle militärische Antwort, dass die russische Armee vernichtet wird.«
Wegen Krim-Brücke: Putin droht mit Aus für Getreideabkommen
Putin drohte wegen der Explosion auf der Krim-Brücke mit einem Aus für das Getreideabkommen mit der Ukraine. Der russische Geheimdienst FSB habe die Information, dass der Sprengsatz für die Brücke auf dem Seeweg aus Odessa gekommen sei, sagte der russische Präsident. »Wenn sich herausstellt, dass dafür die humanitären Korridore für die Ausfuhr von Getreide genutzt wurden, dann schließen wir sie.«
Melnyk will auch als Ex-Botschafter nicht »die Klappe halten«
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk will sich auch nach seiner Rückkehr nach Kiew mit Wortmeldungen in die deutsche Politik einmischen. Zwar wolle er seinem Nachfolger nicht in die Quere kommen und auch kein Ersatzbotschafter sein, sagte Melnyk vor seiner für Samstag geplanten Abreise. »Aber ich kann nicht versprechen, dass ich die Klappe halten werde.« Es könne schon sein, dass er »den einen oder anderen - auch scharfen - Kommentar abgebe, wenn ich sehe, dass etwas schief läuft in Deutschland, wenn es um die Unterstützung meiner Heimat geht«.
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