Nach dem Fund Hunderter Leichen in der von russischer Besetzung befreiten Stadt Isjum hat die Ukraine eine Bestrafung Russlands wegen Kriegsverbrechen gefordert. Die Welt dürfe nicht zusehen, wie der »Terrorstaat« Russland töte und foltere, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Russland müsse mit noch härteren Sanktionen bestraft werden, forderte er. Aktuell seien mehr als 440 Gräber in der Nähe von Isjum im befreiten Gebiet Charkiw gefunden worden. Die Ermittlungen dauerten noch an, sagte er weiter.
»Es gibt bereits klare Beweise für Folter, erniedrigende Behandlung von Menschen. Außerdem gibt es Beweise, dass russische Soldaten, deren Positionen nicht weit von dieser Stelle waren, auf die Beerdigten einfach aus Spaß geschossen haben«, sagte Selenskyj in einer am Freitagabend in Kiew verbreiteten Videobotschaft. Russland habe agiert wie im Frühjahr in Butscha, einem Vorort der Hauptstadt Kiew. Dort waren gefesselte Leichen von Zivilisten gefunden worden. Selenskyj begrüßte, dass die Vereinten Nationen nun Experten schicken wollten, um die Taten »russischer Terroristen« zu erfassen.
In der ostukrainischen Stadt Isjum wurden mehr als 400 Leichen gefunden. Die Menschen sollen ums Leben gekommen sein, als Russland die Stadt Ende März heftig beschossen habe. Damals waren auch in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Biden warnt Russland vor Einsatz nuklearer Waffen
Die US-Regierung bezeichnete die Leichenfunde als »abscheulich«. »Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen«, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby.
US-Präsident Joe Biden warnte Russland erneut vor dem Einsatz nuklearer Waffen im Krieg gegen die Ukraine. »Sie würden in der Welt noch mehr zum Ausgestoßenen werden, als sie es je waren«, sagte Biden in einem Interview der Sendung »60 Minutes« des US-Fernsehsenders CBS. Auf die Frage, wie die US-Regierung in so einem Fall reagieren würde, wollte Biden keine Details preisgeben, machte aber deutlich, dass es schwerwiegende Folgen geben würde. »Es würde das Gesicht des Krieges verändern, wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg.« Das vollständige Interview soll am Sonntag ausgestrahlt werden.
Bundeskanzler bekräftigt in Waffendebatte: "Keine Alleingänge"
Bei der Verteidigung gegen den das russische Militär setzt die Ukraine vor allem auf die Lieferung moderner westlicher Waffen. Das führe zu einer bedeutenden Stärkung der ukrainischen Armee, betonte Selenskyj in seinem Video. In der Debatte über eine mögliche Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine verwies Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) jedoch auf bereits erfolgte Sendungen schwerer Waffen und bekräftigte, dass es keine deutschen Alleingänge geben werde.
Im »Interview der Woche« des Deutschlandfunks sagte Scholz, die Bundesregierung tue sehr viel. Gerade die Waffen, die Deutschland zur Verfügung gestellt habe, hätten »den Unterschied gemacht und die Erfolge, die jetzigen Erfolge, die die Ukraine verzeichnet, auch ermöglicht«. Deshalb mache es »Sinn, dass wir dort weitermachen«. Kiew hatte zuletzt bei einer Gegenoffensive im Osten des Landes besetztes Gebiet zurückerobert.
Die Ukraine fordert den Westen und konkret Deutschland auf, ihr auch Kampfpanzer westlicher Bauart und Schützenpanzer zu liefern. Bisher hat kein Nato-Land solche Kampfpanzer geliefert. Scholz betont stets, dass es in dieser Frage keinen deutschen Alleingang geben werde. Die Koalitionspartner FDP und Grüne zeigen sich allerdings offen für eine Ausweitung der Waffenlieferungen. Am Donnerstag hatte die Bundesregierung angekündigt, es würden der Ukraine zwei weitere Mehrfachraketenwerfer Mars sowie 50 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo überlassen. Zudem würden 200 Raketen geliefert. Der bewaffnete Radtransporter Dingo dient für Patrouillen- und Spähfahrten.
Estlands Regierungschefin Kaja Kallas mahnte am Samstag weitere Unterstützung für Kiew an. »Die anhaltende Gegenoffensive beweist, dass Militärhilfe die Ukraine näher an Sieg und Frieden bringt. Unser Fokus muss darauf liegen, unsere Hilfe und Waffenlieferungen zu erhöhen, um die russische Aggression so schnell wie möglich zurückzuschlagen«, sagte Kallas in Tallinn.
Bundesregierung erlaubt Haubitzen-Kauf
Die Bundesregierung genehmigte der Ukraine den Kauf von Haubitzen aus deutscher Produktion. Ein Regierungssprecher sagte am Samstag auf Anfrage: »Wir können bestätigen, dass eine Genehmigung zur Ausfuhr von 18 Haubitzen vom Typ RCH-155 erteilt wurde.« Die »Welt am Sonntag« hatte zuvor unter Berufung auf ihr vorliegende Dokumente darüber berichtet. Demnach geht es um einen geplanten Auftrag Kiews beim Rüstungskonzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW) im Wert von 216 Millionen Euro. Die Haubitzen könnten allerdings frühestens in zweieinhalb Jahren ausgeliefert werden.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sagte der Zeitung: »Damit wird ein großer Beitrag geleistet, um die Schlagkraft der ukrainischen Armee massiv zu stärken«, sagte Melnyk.
London: Russland will Verteidigungslinie in Ostukraine halten
Einer britischen Einschätzung zufolge verstärken die russischen Truppen in der Ostukraine ihre Stellungen gegen ukrainische Angriffe. Die Russen hätten eine Defensivlinie zwischen dem Fluss Oskil und der Kleinstadt Swatowe im Gebiet Luhansk errichtet, teilte das Verteidigungsministerium in London am Samstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Die Ukrainer würden hier ihre Offensive fortsetzen. Russland wolle aber unbedingt die Kontrolle behalten, weil durch dieses Gebiet eine der wenigen Nachschubrouten führe, die noch von russischen Einheiten kontrolliert werde, hieß es. Zudem verlaufe die Abwehrlinie entlang der Grenze des Gebiets Luhansk, dessen »Befreiung« eines der wichtigsten russischen Kriegsziele sei.
Scholz: Gespräche mit Putin »immer im Ton freundlich«
Bundeskanzler Scholz bezeichnete seine Gespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine als »immer im Ton freundlich«. Dies sei so gewesen, auch wenn es »in der Sache sehr, sehr unterschiedliche, ja weit unterschiedliche Ansichten« gebe, die er klar vorgetragen habe, sagte Scholz dem Deutschlandfunk. Wenn er alle Gespräche zusammenfasse, die er in letzter Zeit mit Putin geführt habe, so habe es »durchaus Bewegungen gegeben«. Diese seien nur nicht sehr weitreichend gewesen. Scholz hatte nach mehrmonatiger Unterbrechung am Dienstag wieder mit Putin telefoniert.
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