Nach der Tötung Dutzender ukrainischer Kriegsgefangener in einem von Russland kontrollierten Lager hat Präsident Wolodymyr Selenskyj Vergeltung angekündigt. Es handele sich um ein vorsätzliches russisches Kriegsverbrechen, sagte der Präsident in einer Videobotschaft. Erneut forderte er die Weltgemeinschaft auf, Russland offiziell als Terrorstaat einzustufen.
Das russische Verteidigungsministerium in Moskau veröffentlichte am Samstag die Namen von 50 getöteten und 73 verletzten Gefangenen. Sie waren in einem Gefängnis in dem Ort Oleniwka inhaftiert gewesen, der bei Donezk auf dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet liegt. In der Baracke war in der Nacht auf Freitag angeblich eine Rakete eingeschlagen. Russland schiebt den Treffer auf die präzisen Himars-Mehrfachraketenwerfer aus den USA, die die ukrainische Armee einsetzt.
Die Angaben beider Seiten waren nicht sofort verifizierbar; erste Analysen von Bildern und Videos weckten aber Zweifel an der russischen Version. »Das verfügbare optische Material scheint die ukrainische Darstellung eher zu stützen als die russische«, schrieb das US-Institut für Kriegsstudien (ISW), ohne sich endgültig festzulegen. »Russland soll Dutzende ukrainische Kriegsgefangene getötet haben«, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borell.
Erstmals seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine vor mehr als fünf Monaten telefonierten die Außenminister der USA und Russlands miteinander. Antony Blinken und Sergej Lawrow sprachen über einen möglichen Austausch von Inhaftierten. Moskau fordert nach US-Medienberichten, auch den mutmaßlichen wegen des Tiergartenmords in Berlin verurteilten russischen Geheimagenten mit einzubeziehen.
Rotes Kreuz fordert Zugang zu Gefängnis
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erbat nach eigenen Angaben Zugang zu dem Gefängnis in Oleniwka. Man wolle »die Gesundheit und den Zustand aller Personen feststellen, die zum Zeitpunkt des Angriffs anwesend waren«. Das Rote Kreuz biete Hilfe bei der Evakuierung von Verwundeten und medizinische Hilfsgüter an, hieß es in einer Mitteilung vom Samstag.
In dem Gefängnis waren nach russischen Angaben 193 ukrainische Soldaten gefangen. Der ukrainische Militärgeheimdienst teilte mit: »Die Explosionen ereigneten sich in einem neu errichteten Gebäude, das speziell für die Gefangenen aus Azovstal hergerichtet wurde.« Azovstal ist das Stahlwerk in Mariupol, in dem sich die ukrainischen Soldaten verschanzt hatten, bevor sie aufgaben und in russische Gefangenschaft kamen. Diesen Angaben nach sprengten Soldaten der russischen Söldnertruppe Wagner die Baracke mit den Gefangenen.
Medien zeigten Bilder von einem ausgebrannten Schlafsaal mit Leichen. Auch vor dem Gebäude, dessen Decke große Löcher aufwies, lagen viele mit Planen abgedeckte Körper. Zu den Zweifeln an der russischen Version gehört, dass es keine Zeugen für den Anflug der angeblichen ukrainischen Rakete gibt. Es seien auch nur Gefangene und keine Wachleute aus der sogenannten Volksrepublik Donezk getroffen worden.
Präsident Selenskyj sprach von einem »Terroranschlag, der von russischen unmenschlichen Monstern« verübt worden sei. »Die Vereinten Nationen (UN) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), die das Leben und die Gesundheit unserer Kriegsgefangenen garantieren sollten, müssen umgehend reagieren«, forderte der Staatschef. In Kiew forderten die Angehörigen der gefangenen Soldaten Aufklärung über deren Schicksal.
Selenskyj ruft zum Verlassen des Gebiets Donezk auf
Selenskyj ruft die Menschen zum Verlassen des Gebiets Donezk aufgerufen. »Im Donbass sind Hunderttausende Menschen, Zehntausende Kinder, viele lehnen es ab zu gehen«, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache am Samstag. Er appellierte eindringlich an die Bewohner im Donbass, diese Entscheidung zu treffen. »Glauben Sie mir«, sagte er in flehendem Ton. »Je mehr Menschen aus dem Donezker Gebiet gehen, desto weniger Leute kann die russische Armee töten.«
Zuvor hatte die ukrainische Regierung eine verpflichtende Evakuierung angeordnet mit der Begründung, dass die Bürger sich vor Beginn der Heizsaison rechtzeitig in Sicherheit bringen müssten, da die Gasleitungen durch den Krieg im Gebiet Donezk zerstört seien. Selenskyj betonte nun, dass alles organisiert werde für die Flucht der Menschen aus den von der Ukraine noch kontrollierten Gebieten der Region.
Der Präsident beklagte demnach, dass viele Bürger noch immer nicht einsichtig seien. »Brechen Sie auf, wir helfen«, sagte er. »Wir sind nicht Russland - eben weil für uns jedes Leben wichtig ist.«
Tiergartenmörder gerät ins Tauziehen zwischen Moskau und Washington
US-Außenminister Blinken sagte, er habe mit Lawrow ein »offenes und direktes Gespräch« geführt über ein Angebot zur Freilassung der in Russland inhaftierten US-Basketballerin Brittney Griner und des angeblichen Spions Paul Whelan. Die Basketballerin Griner muss sich in Russland wegen Drogenbesitzes verantworten. Die US-Regierung gab bisher keine Details zu dem Angebot an Russland bekannt. In Medien wird aber über einen Austausch mit dem in den USA inhaftierten russischen Waffenhändler Viktor But (englisch: Bout) spekuliert.
Kompliziert wird der Fall durch eine angebliche Moskauer Forderung, auch den verurteilten Russen im sogenannten Tiergartenmordfall freizulassen. Darüber berichtete der US-Sender CNN unter Berufung auf mit den Gesprächen vertraute Quellen. Das Ersuchen ist dem Bericht zufolge als problematisch eingestuft, da der heute 56-Jährige in Deutschland im Gefängnis sitzt.
Der sogenannte Tiergartenmord vom August 2019 hatte zu diplomatischen Verwerfungen zwischen Deutschland und Russland geführt. Damals war ein Tschetschene mit georgischem Pass in der Parkanlage Kleiner Tiergarten in Berlin von einem Russen erschossen worden. Das Kammergericht Berlin verhängte gegen den Mann lebenslange Haft. Nach Überzeugung der Richter handelte er im Auftrag staatlicher russischer Stellen. Moskau hat den Vorwurf bislang zurückgewiesen.
Kämpfe in der Ukraine gehen weiter
Der Generalstab in Kiew meldete eine Vielzahl von russischen Angriffen, darunter in den Gebieten Charkiw und Mykolajiw. Im Gebiet Donezk seien dem Feind schwere Verluste zugefügt worden, teilte der Generalstab mit. Die russischen Streitkräfte bestätigten am Samstag, dass im Gebiet Charkiw ein ukrainischer Stützpunkt mit »Iskander«-Raketen bombardiert worden sei.
Westliche Sicherheitsexperten sahen aber Anzeichen, dass die russische Armee mit ihren Angriffen nicht mehr vorankommt. »Ihnen geht die Puste aus...«, twitterte der Chef des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6, Richard Moore. Der ehemalige US-General David Petraeus hält es für möglich, dass die Ukraine von Russland besetzte Gebiete zurückholen könne, wie er der »Bild« sagte.
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