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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Ungarn legt sich erneut bei den EU-Sanktionen gegen Russland quer und erreicht dabei Zugeständnisse der anderen Mitgliedstaaten. Laut dem ukrainischen Staatschef Selenskyj halten russische Truppen ein Fünftel seines Landes besetzt. Die Entwicklungen.

Donezk
Ein ukrainischer Soldat patrouilliert in einem Dorf nahe der Frontlinie im Gebiet Donezk im Osten der Ukraine. Foto: Armangue/dpa
Ein ukrainischer Soldat patrouilliert in einem Dorf nahe der Frontlinie im Gebiet Donezk im Osten der Ukraine.
Foto: Armangue/dpa

Drei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird die Verständigung auf weitere Sanktionen des Westens gegen Moskau immer schwieriger.

Am Donnerstag erreichte Ungarn mit einer zeitweisen Blockade des nächsten EU-Sanktionspakets, dass keine Strafmaßnahmen gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Patriarch Kirill eingeführt werden.

Die Vertreter der EU-Staaten einigten sich aber auf die weiteren Teile des Sanktionspakets, darunter ein weitgehendes Embargo gegen Öl-Lieferungen aus Russland. Die US-Regierung verhängte weitere Sanktionen gegen russische Oligarchen und Regierungsbeamte, darunter der Milliardär Alexej Mordaschow und die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa.

Am Freitag ist Tag 100 seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Aus dem Osten der Ukraine wurden weiter heftige Kämpfe gemeldet. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte erneut eine lange militärische Auseinandersetzung voraus. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bekannte sich eindeutig zu dem Ziel, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss.

Selenskyj: 20 Prozent der Ukraine besetzt

Die Ukraine sieht im Zuge des Angriffskriegs von Kremlchef Wladimir Putin inzwischen ein Fünftel ihres Staatsgebiets von russischen Truppen besetzt. »Stand heute sind 20 Prozent von unserem Gebiet unter Kontrolle der Besatzer«, sagte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj nach Angaben der Präsidialverwaltung in Kiew am Donnerstag bei einer Video-Schalte vor dem luxemburgischen Parlament. Fast 125.000 Quadratkilometer seien der ukrainischen Kontrolle entrissen.

Er betonte, sein Land werde den Kampf gegen die Eindringlinge nicht aufgeben. »Wir haben sie gestoppt und teils zurückgedrängt, die Armee der Invasoren, die einst als zweitstärkste der Welt galt.«

Anhaltende Kämpfe um Sjewjerodonezk

Die Kämpfe um das Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine dauern nach Angaben aus Kiew an. Wie viele Bezirke der einstigen Großstadt die Ukrainer noch halten, ist unklar. Schon am Mittwoch hatten die Russen das Stadtzentrum eingenommen. Auch nach britischer Einschätzung rücken russische Truppen weiter vor und haben inzwischen den Großteil von Sjewjerodonezk eingenommen. Allerdings hätten sie erhebliche Verluste erlitten, hieß es unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse.

Das ukrainische Militär will Sjewjerodonezk nicht aufgeben. »Die Lage ist schwierig, aber sie ist besser als gestern. Und sie ist unter Kontrolle«, sagte der stellvertretende Generalstabschef Olexij Hromow am Donnerstag vor Journalisten in der Hauptstadt Kiew.

Kiew: »Feind hat seine selbstgesteckten Ziele nicht erreicht«

Vize-Generalstabschef Hromow und die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar zogen mit Blick auf den 100. Kriegstag an diesem Freitag Bilanz. »Unser Widerstand ist nach all den Monaten ungebrochen. Der Feind hat seine selbstgesteckten Ziele nicht erreicht«, sagte Maljar. »Wir sind bereit für einen Langzeitkrieg. Wir haben uns auf einen langen Krieg eingestellt.«

Maljar lobte, dass nun endlich die »Dynamik der Waffenlieferungen« aus dem Westen an Fahrt aufnehme. Sie machte aus Sicherheitsgründen keine Angaben zum Zeitpunkt und Ort der Lieferungen. Die Ukraine will mit den schweren Waffen unter anderem aus den USA und aus Deutschland den Vormarsch der russischen Truppen aufhalten und besetzte Städte befreien. »Es geht darum, dass wir uns verteidigen«, sagte sie auf die Frage, ob – wie von Moskau befürchtet – damit auch russisches Staatsgebiet angegriffen werden könnte.

Vize-Generalstabschef Hromow sagte, dass Russland es mit seinen Luftschlägen und Artilleriebeschuss vor allem auch auf die »totale Zerstörung der Infrastruktur« abgesehen habe, darunter Eisenbahnverbindungen. Es handele sich um das gleiche Vorgehen besonders mit Luftangriffen der russischen Truppen wie in Syrien. Trotzdem scheiterten sie dabei, ihre Ziele zu erreichen, sagte er.

Keine EU-Sanktionen gegen Patriarch Kirill

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill sollte nach dem Willen der EU-Staaten außer Ungarn wegen seiner Unterstützung für den russischen Angriffskrieg auf die Sanktionsliste. Er pflegt engen Kontakt zu Präsident Wladimir Putin und zeigte sich bislang sehr kremltreu. Der 75-Jährige stellte sich in seinen Predigten immer wieder hinter den Kriegskurs und behauptete zuletzt sogar, dass Russland noch nie ein anderes Land angegriffen habe.

Wichtigster Teil des mittlerweile sechsten Sanktionspakets ist ein Embargo gegen den Import russischen Öls. Es wurde am Donnerstag von Vertretern der EU-Staaten ohne die eigentlich geplante Strafmaßnahme gegen Kirill gebilligt, wie mehrere Diplomaten der Deutschen Presse-Agentur bestätigten.

Der wirtschaftlich besonders relevante Boykott gegen Öllieferungen aus Russland sieht vor, im kommenden Jahr auf dem Seeweg kein Öl mehr in die EU zu lassen. Lediglich Ungarn, die Slowakei und Tschechien sollen wegen ihrer großen Abhängigkeit noch bis auf Weiteres russisches Öl über die Druschbba-Pipeline importieren dürfen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge wird die EU trotz der Ausnahme für Pipeline-Lieferungen bis Ende des Jahres rund 90 Prozent weniger Öl aus Russland beziehen.

Ukrainischer Parlamentspräsident fordert deutsche Kampfpanzer

Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk forderte bei einem Besuch in Berlin die Lieferung deutscher Leopard- und Marder-Panzer. »Natürlich brauchen wir vor allem moderne Waffen. Wir können auch mit alten Waffen aus alten Beständen kämpfen und standhalten, aber die neueren Waffen sind effizienter«, sagte er am Donnerstag nach einem Treffen mit Bundestagsabgeordneten laut offizieller Übersetzung. »Deshalb erwarten wir sowohl die Marder als auch die Leoparden.«

Stefantschuk begrüßte zwar, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch im Bundestag die Lieferung weiterer schwerer Waffen in die Ukraine angekündigt hat. Er betonte aber, dass diese nun schnell geliefert werden müssten.

Kreml: Noch keine Basis für Beitrittsreferendum in Südukraine

Kurzfristig wird es nach Angaben aus dem Kreml in den besetzten Gebieten in der Südukraine kein Referendum zum Anschluss an Russland geben. »Wenn die Sicherheit nicht völlig gewährleistet ist - und wir sehen die andauernden Schläge der ukrainischen Militärs und Nationalisten auf zivile Ziele in diesen Gebieten - ist es natürlich kaum möglich, davon (von der Abhaltung eines Referendums - Red.) zu sprechen«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Damit widersprach er Forderungen der prorussischen Verwaltung in den Gebieten Cherson und Saporischschja sowie einigen Moskauer Politikern nach einem schnellen Anschluss der Region an Russland.

© dpa-infocom, dpa:220602-99-516199/15