Die Bundesregierung will die von Russland angegriffene Ukraine beim Wiederaufbau mit Soforthilfegeldern in Millionenhöhe unterstützen. Mit der Hilfe dürfe man nicht warten, bis der Krieg zu Ende sei, sagte Entwicklungsministerin Svenja Schulze im schwer zerstörten Kiewer Vorort Borodjanka.
Die SPD-Politikerin besuchte die Ukraine als zweites Mitglied der Bundesregierung seit Beginn des russischen Angriffskrieges, der am Freitag in den 93. Tag ging. Derzeit toben die schwersten Kämpfe im Osten des Landes.
Die prorussischen Separatisten erklärten die Einnahme der Stadt Lyman im Donbass - nach ukrainischen Angaben von Freitagabend dauerten die Kämpfe jedoch an. Die noch von Ukrainern kontrollierte Stadt Lyssytschansk drohte eingekesselt zu werden. Die besonders schwer umkämpfte Stadt Sjewjerodonezk ist nach Angaben der dortigen Militärverwaltung fast vollständig von russischen Truppen umzingelt. In Sjewjerodonezk sind offiziellen Angaben zufolge seit Kriegsbeginn rund 1500 Menschen getötet worden.
Schulze sichert zivile Hilfen zu - Appell an Putin
Entwicklungsministerin Schulze sagte vor Journalisten in Borodjanka, 185 Millionen Euro für Soforthilfemaßnahmen seien bereits genehmigt. Konkret sollen etwa Wohnungen und Stromleitungen gebaut werden. »Die Ukrainerinnen und Ukrainer brauchen einfach Wasser und Strom. Die, die innerhalb der Ukraine geflohen sind, brauchen ein Dach über dem Kopf, die Kinder müssen wieder in die Schule gehen können, und für all das braucht es Unterstützung«, sagte Schulze. Deutschland werde auch die nächsten Jahre Partner bleiben. »Aber wir dürfen nicht erst warten, bis der Krieg zu Ende ist, wir müssen jetzt wieder anfangen, zu helfen und aufzubauen.«
Die Ministerin reiste - nach Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) - als zweites Mitglied der Bundesregierung seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar in die Ukraine. Kremlchef Wladimir Putin forderte sie dazu auf, Getreidelieferungen über die ukrainischen Häfen zu ermöglichen, und gab ihm Schuld an drohenden Hungerkatastrophen in vielen Ländern der Welt. Die russische Darstellung, die westlichen Sanktionen provozierten eine globale Hungerkrise, wies sie zurück.
Die Ukraine, die als Kornkammer Europas gilt, kann durch den Krieg viel weniger Weizen exportieren. Zudem sind durch die Kampfhandlungen Lieferketten unterbrochen. Italiens Regierungschef Mario Draghi sprach mit Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj über die Getreidekrise, nachdem er schon mit Putin darüber geredet hatte. Eine Lösung zeichnete sich aber nicht ab.
Scholz: Putin will zurück zum Recht des Stärkeren
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, das »Putinsche Narrativ«, der Westen habe die ausgelöste Hungerkrise zu verantworten, müsse unbedingt widerlegt werden. Beim Katholikentag in Stuttgart verurteilte der SPD-Politiker erneut den russischen Angriffskrieg und betonte, dass Deutschland sich der Unterstützung der Ukraine verpflichtet fühle. »Wir haben uns entschieden, dem Opfer dieses Angriffskriegs beizuspringen«, sagte Scholz. »Putins Krieg richtet sich gegen eine Friedensordnung, die aus dem Bekenntnis «Nie wieder» nach zwei verheerenden Weltkriegen entstanden ist. Er will zurück zum Recht des Stärkeren.«
Prorussische Separatisten melden Erfolge im Donbass
Die russischen Kräfte sind in den vergangenen Tagen dank massiven Einsatzes von Artillerie und Luftwaffe im Donbass-Gebiet in der Ostukraine schneller vorangekommen als in den Wochen zuvor. Nach eigenen Angaben erlangten die prorussischen Separatisten die Kontrolle über die Stadt Lyman im Gebiet Donezk. Der ukrainische Generalstab berichtete Freitagabend hingegen noch von Kämpfen um die Stadt. Allerdings hatte der ukrainische Präsidentenberater Olexyj Arestowytsch bereits am Vorabend im Fernsehen die strategisch wichtige Ortschaft als verloren bezeichnet.
Lyman liegt westlich des noch von ukrainischen Truppen kontrollierten Ballungsraums um die Großstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk. Die russischen Streitkräfte versuchen seit Wochen, dieses Gebiet zu erstürmen. Mit dem Fall von Lyman wird die Versorgung des ukrainischen Militärs in dem Raum schwieriger.
Militärverwaltung: Sjewjerodonezk fast eingekesselt
Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk ist nach Angaben der dortigen Militärverwaltung schon zu zwei Dritteln von russischen Truppen belagert, aber noch nicht komplett eingekesselt, sagte der Chef der lokalen Militärverwaltung, Olexandr Strjuk. Die Verteidiger leisteten weiter heftigen Widerstand. Dagegen behaupteten die prorussischen Separatisten der staatlichen Moskauer Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge, der Ring sei komplett geschlossen um die Stadt.
Rund 90 Prozent der Gebäude in der Stadt sind laut Strjuk beschädigt, 60 Prozent müssten völlig neu gebaut werden. Er hatte zuvor mitgeteilt, dass seit Kriegsbeginn in Sjewjerodonezk rund 1500 Soldaten und Zivilisten getötet worden seien. Viele Menschen seien geflüchtet. Von den einst 130.000 Einwohnern sei mittlerweile nur noch rund ein Zehntel da.
Politiker: Weitere 70 Leichen in Mariupol gefunden
In der mittlerweile von russischen Truppen eingenommenen Hafenstadt Mariupol sind nach Angaben eines Lokalpolitikers Dutzende weitere Leichen gefunden worden. Rettungskräfte hätten insgesamt rund 70 leblose Körper auf einem ehemaligen Fabrikgelände entdeckt, schrieb der Stadtratsabgeordnete Petro Andrjuschtschenko im Nachrichtendienst Telegram. Die Menschen seien unter den Trümmern begraben worden, als russische Besatzer das Gebäude beschossen, schrieb er. Überprüfen ließen sich diese Angaben zunächst nicht. Mariupol ist zu einem Symbol für die Brutalität des russischen Angriffskriegs geworden.
Britische Ministerin: Ukraine muss auf lange Sicht unterstützt werden
Die britische Außenministerin Liz Truss sieht kein baldiges Ende der russischen Aggression gegen die Ukraine. »Wir müssen bereit sein, die Ukraine auf lange Sicht zu unterstützen«, sagte die konservative Politikerin nach einem Treffen mit ihrem tschechischen Kollegen Jan Lipavsky in Prag. Man müsse sicherstellen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und Russland sich zurückzieht.
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