Nach dem Raketentreffer auf einen Bahnhof in der Ukraine mit vielen getöteten Zivilisten rücken Waffenlieferungen an das von Russland angegriffene Land verstärkt in den Fokus.
Der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, sagte am Samstag, diese seien derzeit entscheidender als ein Gas-Embargo gegen Russland. Bei einem unangekündigten Besuch in Kiew sagte Großbritanniens Premier Boris Johnson dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weitere Waffenlieferungen zu.
Die EU hatte zuvor ebenso wie die USA Russland für den Angriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk mit mehr als 50 Toten verantwortlich gemacht. Der außenpolitische Sprecher der EU sprach von einem Kriegsverbrechen. Mit Johnson, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Borrell und dem östereichischen Kanzler Karl Nehammer sind innerhalb weniger Tage vier westliche Spitzenpolitiker nach Kiew gereist. Bei einer internationalen Geberkonferenz für Ukraine-Flüchtlinge in Warschau kamen Zusagen von mehreren Milliarden Euro zusammen.
EU macht Russland für Raketenangriff verantwortlich
Der außenpolitische Sprecher der EU sagte in einer Mitteilung, die EU sei zutiefst schockiert von Russlands Angriff. »Das war ein brutaler, wahlloser Bombenangriff auf unschuldige Zivilisten, darunter viele Kinder, die auf der Flucht waren aus Angst vor einem weiteren russischen Angriff auf ihre Heimat und ihr Land.« Die Verantwortlichen für dieses Kriegsverbrechen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
»Die von den russischen Streitkräften begangenen Gräueltaten in Butscha, Borodjanka und anderen Städten und Dörfern, die jüngst durch die ukrainische Armee von der russischen Besatzung befreit wurden, sowie der brutale Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk sind Teil der verwerflichen Zerstörungstaktiken des Kremls«, hieß es weiter. Pentagon-Sprecher John Kirby hatte zuvor erklärt: »Unsere Einschätzung ist es, dass das ein russischer Angriff war und dass sie eine ballistische Kurzstreckenrakete genutzt haben, um ihn auszuführen.« Ukrainischen Angaben nach starben bei dem Angriff am Freitag mehr als 50 Menschen, über 100 weitere wurden verletzt.
Keine baldigen Verhandlungen zwischen Selenskyj und Putin
Die Ukraine rechnet nicht mit einem baldigen Treffen von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zu Verhandlungen über ein Ende des Krieges. »Zu sagen, dass sie sich in einer Woche, in zwei Wochen treffen werden - nein, das wird so nicht passieren«, sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstag im ukrainischen Fernsehen. Kiew bereite sich zunächst auf Kämpfe im Donbass vor. Danach habe die Ukraine »eine stärkere Verhandlungsposition« für ein mögliches Präsidententreffen, sagte er.
Die Ukraine bestehe weiter auf starke Sicherheitsgarantien und zahle dafür einen sehr hohen Preis, meinte Podoljak. »Ja, es ist hart, wir verlieren jeden Tag Menschen und Infrastruktur. Aber Russland muss sich von seinen imperialen Illusionen befreien.« Wie lange dies dauern werde, spiele keine Rolle. »Der Präsident der Ukraine wird in Verhandlungen gehen, wenn wir absolut klare Positionen dafür haben.«
Der ukrainische Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit Russland, David Arachamija, sagte, es gebe keine greifbaren Fortschritte. Für Kiew bleibe die territoriale Einheit eine rote Linie. »Wir werden keine Gebiete aufgeben, und wir werden nichts anerkennen«, sagte Arachamija mit Blick auf die 2014 von Russland annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim und die ostukrainischen »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk.
London: Russische Truppen zielen auf Zivilbevölkerung
Nach dem russischen Abzug aus dem Norden der Ukraine gibt es nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes Beweise dafür, dass nicht am Kampfgeschehen beteiligte Menschen auf unverhältnismäßige Weise zur Zielscheibe geworden sind. Es gebe Massengräber, Geiseln seien als menschliche Schutzschilde gebraucht und zivile Infrastruktur vermint worden, teilte das britische Verteidigungsministerium in der Nacht zum Sonntag bei Twitter mit.
Die russischen Streitkräfte nutzten demnach weiterhin Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV), um der Ukraine Verluste zuzufügen, die Moral zu senken und die Bewegungsfreiheit der Ukrainer einzuschränken. Zudem griffen die Truppen weiterhin Infrastrukturziele an, bei denen das Risiko hoch sei, auch der Zivilbevölkerung zu schaden - so etwa bei dem jüngsten Beschuss eines Lagers mit Salpetersäure bei Rubischne im Donbass.
Ukraine stellt Handel mit Russland ein
Die Ukraine hat ein komplettes Handelsembargo gegen Russland verhängt. »Das ist die juristische Verankerung der faktischen Einstellung der Handelsbeziehungen mit der Russischen Föderation vom 24. Februar«, sagte Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko gemäß dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Die Regierung schätzt die Verluste Moskaus aus dem Boykott auf umgerechnet rund 5,5 Milliarden Euro. Ein Teilimportstopp für russische Waren gilt bereits seit 2015. Kiew transportiert aber weiter täglich mehr als 100 Millionen Kubikmeter russischen Erdgases nach Westen.
Geberkonferenz sammelt Milliardenhilfen
Nach ihrer sicheren Rückkehr aus dem Kriegsgebiet nach Polen nahm von der Leyen in Warschau an der Geberkonferenz für Ukraine-Flüchtlinge teil. Sie brachte am Samstag 9,1 Milliarden Euro ein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte per Videobotschaft, Deutschland stelle zusätzliche 425 Millionen Euro an humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe für die Ukraine und ihre Nachbarstaaten zur Verfügung. Hinzu kämen 70 Millionen Euro an medizinischer Unterstützung. Zusätzlich zu den Geldern der Kampagne werde die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung eine Milliarde Euro in Krediten für vertriebene Menschen bereitstellen, so von der Leyen.
Von der Leyen, Johnson und Nehammer in Kiew
Von der Leyen hatte am Freitag in Kiew Selenskyj getroffen und sich ein Bild von der Lage in Butscha gemacht, wo derzeit Untersuchungen zu Kriegsverbrechen der russischen Armee laufen. Am vergangenen Wochenende waren dort zahlreiche Leichen ermordeter Zivilisten gefunden worden, teils gefesselt am Straßenrand. »Mein Instinkt sagt: Wenn das kein Kriegsverbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrechen? Aber ich bin eine gelernte Ärztin und das müssen nun Juristen sorgfältig ermitteln«, sagte sie am Samstag.
Selenskyj traf am Samstag dann den britischen Premier Johnson, der unangekündigt nach Kiew gereist war. Ein britischer Regierungssprecher sprach von einem »Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk«. Johnson sagte laut Mitteilung 120 gepanzerte Fahrzeuge und Anti-Schiffsraketen zu. Zuvor hatte Selenskyj bereits Österreichs Kanzler Karl Nehammer getroffen. »Das ist ein wunderbares Signal, dass die Führer europäischer Staaten damit anfangen, hierher zu kommen und uns nicht nur mit Worten unterstützen«, dankte Selenskyj ihm.
Weitere Kämpfe im Osten der Ukraine
Die Angriffe russischer Einheiten im Donbass im Osten der Ukraine gehen ukrainischen Angaben zufolge weiter. Die russischen Truppen konzentrierten sich darauf, die Orte Rubischne, Nischne, Popasna und Nowobachmutiwka zu übernehmen und die volle Kontrolle über die Stadt Mariupol zu erlangen, berichtete die Agentur Unian unter Berufung auf den Bericht zur militärischen Lage des ukrainischen Generalstabs am Morgen.
Bei Rubischne wurde offenbar ein Lager mit Salpetersäure durch Beschuss beschädigt. Der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, rief dazu auf, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Er sprach von russischem Beschuss. Die prorussischen Separatisten von Luhansk machten dagegen ukrainische Kräfte verantwortlich.
Russlands Armee bestätigte neue Angriffe in den ukrainischen Gebieten Dnipro und Poltawa. Unweit der südostukrainischen Stadt Dnipro sei in der Nacht zum Samstag ein Waffenlager mit Raketen beschossen worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministerium, Igor Konaschenkow. In Myrhorod im zentralukrainischen Poltawa richtete sich ein Angriff demnach gegen einen Flugplatz. Von ukrainischer Seite hieß es, dabei seien zwei Menschen verletzt worden.
Angaben zu Kämpfen und Angriffen beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Am Samstag kam es nach Kiewer Angaben zum dritten Mal seit Kriegsbeginn zu einem Gefangenenaustausch.
Präsident Selenskyj verlangt erneut Öl- und Gasembargo
Selenskyj kündigte an, weiter auf Friedensverhandlungen mit Moskau zu setzen. »Leider sehen wir parallel die Vorbereitungen für einen wichtigen - einige sagen: den entscheidenden - Kampf im Osten unseres Staates«, sagte Selenskyj am Samstag. Das werde eine schwere Schlacht. Trotzdem sei Kiew »vorerst« zu Verhandlungen mit Russland bereit. Zuvor hatte er nach dem Angriff in Kramatorsk erneut eine entschiedene Antwort der internationalen Gemeinschaft gefordert. Selenskyj verlangte ein vollständiges Embargo auf russisches Öl und Erdgas.
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