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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew meldet in der Nacht den Abzug einzelner russischer Verbände nach hohen Truppenverlusten. Britische Geheimdienste melden Angriffe der Ukraine auf besetzte Gebiete. Die Entwicklungen im Überblick.

Berdjansk
Rauch steigt nach einem Beschuss in der Nähe eines Seehafens in Berdjansk auf. Foto: Ukrainisches Militär
Rauch steigt nach einem Beschuss in der Nähe eines Seehafens in Berdjansk auf.
Foto: Ukrainisches Militär

Nach Ansicht britischer Geheimdienste haben die ukrainischen Streitkräfte damit begonnen, hochwertige Ziele in von Russland gehaltenen Gebieten anzugreifen.

Darunter seien etwa ein Landungsschiff oder ein Munitionslager in der Stadt Berdjansk, heißt es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, das am späten Donnerstagabend veröffentlicht wurde.

Währenddessen sollen sich nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte russische Truppen im Nordosten nach hohen Verlusten teils zurückgezogen haben. Das teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht in der Nacht mit.

Demnach beobachte man den Rückzug bestimmter russischer Einheiten hinter die russische Grenze nach dem Verlust von mehr als der Hälfte des Personals.

3300 Evakuierungen aus ukrainischen Städten

In der Ukraine sind im Laufe des Tages mehr als 3300 Menschen aus Gebieten mit aktiven Kampfhandlungen evakuiert worden. Das teilte die Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in ihrer allabendlichen Videobotschaft mit.

Der Großteil von ihnen, rund 2700 Personen, habe aus der Hafenstadt Mariupol kommend mit privaten Transportmitteln die Großstadt Saporischschja erreicht.

Ein Konvoi mit humanitärer Hilfe und Bussen zur Evakuierung in die heftig umkämpfte Hafenstadt sei den dritten Tag infolge nicht durchgelassen worden. Bislang werden Evakuierungswillige in mehreren Orten rund um Mariupol abgeholt. Aus drei Dörfern bei der Hauptstadt Kiew habe man rund 500 Menschen holen können, sagte Wereschtschuk weiter.

Russland: Zahl der Flüchtlinge aus Donbass gestiegen

Die Vizepremierministerin zählte zudem mehr als zehn Vertreter lokaler Behörden auf, die von russischen Einheiten gefangen genommen worden sein sollen. Darunter befindet sich auch der Bürgermeister von Dniprorudne, der zuletzt dafür Bekanntheit erlangt hatte, unbewaffnet russische Panzerfahrer zum Umkehren überredet zu haben. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.

Nach russischen Angaben ist zuletzt die Zahl der Menschen aus dem Donbass, die in die russische Region Rostow flüchten, um ein Vielfaches gestiegen. Dies liege daran, dass mehr humanitäre Korridore geöffnet worden seien, die Mariupol mit Russland verbinden, sagte Wiktor Wodolatsky, erster stellvertretender Vorsitzender des Staatsduma-Ausschusses für GUS-Angelegenheiten, eurasische Integration und Beziehungen zu Landsleuten, der russischen Agentur Tass. Die Führung der selbst ernannten Volksrepublik Donezk engagiere sich aktiv für die Evakuierung der Bewohner von Mariupol, die sich in all diesen Wochen unter den schlimmsten Bedingungen befanden, sagte Woldatsky weiter.

Der Stadtrat Mariupols wiederum wirft russischen Truppen vor, Tausende Einwohner gegen ihren Willen nach Russland zu bringen. Sie kämen zunächst in Lager und würden von dort auf russische Städte verteilt. Dafür gibt es keine unabhängige Bestätigung.

Selenskyj dankt Bevölkerung für Widerstand

Einen Monat nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Bürgerinnen und Bürgern des Landes für ihren Widerstand gedankt. Die ukrainischen Verteidiger hätten den Feind überall aufgehalten, sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft in der Nacht zu Freitag. Er finde, Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die alles für den Sieg der Ukraine und den Frieden täten, hätten Orden verdient. »Ich danke jedem und jeder von ihnen«, sagte Selenskyj.

Ukraine erhöht Druck auf russische Truppen

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste erhöht die Ukraine den Druck auf die russischen Streitkräfte nordöstlich von Kiew.

Diese stünden dort bereits vor erheblichen Problemen in der Versorgung und in ihrer Kampfmoral, heißt es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, das am Mittwochabend veröffentlicht wurde.

Ukrainische Streitkräfte führten zudem erfolgreiche Gegenangriffe gegen russische Stellungen in Orten am Rande der Hauptstadt durch und hätten möglicherweise Makariw und Moschun zurückerobert. Es bestehe »eine realistische Möglichkeit, dass die ukrainischen Streitkräfte nun in der Lage sind, russische Einheiten in Butscha und Irpin einzukreisen«, hieß es weiter.

Schon vor Beginn des Krieges begann London damit, in ungewöhnlich offener Art und Weise Geheimdienstinformationen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Seit mehreren Wochen veröffentlicht die Regierung nun tägliche Einschätzungen zum Verlauf des russischen Angriffskrieges.

Briten sprechen von massiven russischen Verlusten

Weiter berichten die Geheimdienste, russische Truppen hätten massive Verluste erlitten und sehen sich zunehmend nach Verstärkung um. »Die russischen Streitkräfte haben während ihrer Invasion in die Ukraine mit ziemlicher Sicherheit Tausende Opfer erlitten«, hieß es in dem Update zudem. Daher versuche Moskau nun mutmaßlich, Reservisten, Wehrpflichtige und Söldner privater und ausländischer Militärunternehmen einzusetzen, um die »beträchtlichen Verluste« auszugleichen. Welchen Einfluss diese Gruppen auf die Kampfstärke der russischen Streitkräfte in der Ukraine haben werden, sei noch unklar, hieß es unter Berufung auf den Wissensstand der Geheimdienste.

Nach Einschätzung der Nato sind in der Ukraine bislang zwischen 7000 und 15.000 russische Soldaten getötet worden. Grundlage der Zahlen seien Angaben der Ukrainer, in Russland verbreitete Informationen sowie nachrichtendienstliche Erkenntnisse, hatte ein ranghoher Militär, der anonym bleiben wollte, am Mittwoch gesagt.

US-Angaben: Russland hat keine Lufthoheit

Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums haben die russischen Streitkräfte auch einen Monat nach Kriegsbeginn nicht die Lufthoheit in der Ukraine erobert. Die USA und ihre Verbündeten arbeiteten daran, den Ukrainern mehr Luftabwehrsysteme mit großer Reichweite zu beschaffen. Die derzeit vorhandenen Systeme setzten die Ukrainer »sehr effektiv« ein. Das sei ein Grund dafür, »warum wir ein ziemlich risikoscheues Verhalten einiger russischer Piloten beobachten«.

Durch russischen Beschuss in Kiew wurde am Mittwoch die russische Journalistin Oxana Baulina getötet, die für das unabhängige Investigativportal The Insider (theins.ru) arbeitete. Seit Beginn des Kriegs gab es Berichte über mindestens sechs getötete Journalisten.

Ukraine: Russland mit mehr Luftangriffen

Russland hat nach Angaben des ukrainischen Militärs seine Luftangriffe verstärkt. Binnen 24 Stunden habe man mehr als 250 Einsätze registriert, heißt es im Morgenbericht des ukrainischen Generalstabs. Am Vortag seien es 60 weniger gewesen. Die Hauptziele seien weiterhin Einrichtungen der militärischen und zivilen Infrastruktur in den Gebieten Kiew, Tschernihiw und Charkiw. Moskau gibt dagegen an, nur militärische Ziele anzugreifen.

Am Mittwoch seien zudem elf »feindliche Luftziele« getroffen worden, darunter Flugzeuge, ein Hubschrauber und Marschflugkörper. Genauere Information darüber hole man noch ein.

Seit Beginn des Kriegs haben russische Einheiten nach Angaben aus Kiew mehr als 1800 Luftangriffe auf die Ukraine geflogen. Außerdem seien Hunderte Raketen von Land und von der See auf ukrainische Ziele abgefeuert worden, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. Darunter seien 175 Geschosse vom Typ Iskander und 183 vom Typ Kalibr gewesen.

Marine: Russisches Schiff zerstört

Am Hafen der südukrainischen Stadt Berdjansk ist es zu heftigen Explosionen gekommen. Die ukrainische Zeitung »Ukrajinska Prawda« veröffentlichte auf ihrem Online-Portal Bilder, auf denen meterhohe Flammen und eine riesige Rauchsäule zu sehen sind. Laut ukrainischer Marine soll ein russisches Landungsschiff zerstört worden sein.

Das Schiff soll zur Schwarzmeerflotte gehört haben. Vorher hatte die »Orsk« laut Marine Schützenpanzerwagen und Ausrüstung nach Berdjansk gebracht. Von russischer Seite gab es zunächst keine Angaben, unabhängig überprüfen ließen sich die Berichte nicht.

Die russische Flotte hat im Schwarzmeergebiet Medienberichten zufolge insgesamt sechs derartige Landungsschiffe im Einsatz. Berdjansk ist bereits seit mehr als drei Wochen von russischen Truppen besetzt.

In sozialen Medien war zudem die Rede davon, dass ein Munitionsdepot und ein Treibstofftank in dem Hafen am Asowschen Meer zerstört worden seien. Über Opfer wurde zunächst nichts bekannt.

Mindestens sechs Tote durch Beschuss in Charkiw

Durch russischen Artilleriebeschuss sind in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw nach ukrainischen Angaben mindestens sechs Menschen getötet worden. Weitere 15 wurden verletzt, wie Gebietsgouverneur Oleh Synjehubow in sozialen Netzwerken mitteilte. Die Menschen hätten bei einer Poststelle in einem nordöstlichen Stadtbezirk für humanitäre Hilfe angestanden. »Dies ist ein weiteres Kriegsverbrechen der russischen Besatzer«, schrieb Synjehubow.

Die zweitgrößte Stadt des Landes wird seit dem russischen Angriff vor vier Wochen aus der Luft und mit Artillerie angegriffen. Örtlichen Angaben zufolge wurden bisher mehr als 1000 Häuser in Charkiw zerstört.

Ukraine dementiert russische Einnahme von Isjum

Die Ukraine weist russische Angaben zur Eroberung der ostukrainischen Stadt Isjum zurück. »Das ist eine weitere Provokation der russischen Presse. Sie haben keine andere Wahl als über angebliche «Siege» zu lügen«, schrieb der Gouverneur des Gebiets Charkiw, Oleh Synjehubow, im Nachrichtenkanal Telegram. »Isjum ist eine ukrainische Stadt. Das war so und wird immer so sein.« Es werde weiter heftig gekämpft, aber die ukrainischen Streitkräfte hielten ihre Stellungen, betonte Synjehubow.

Am Morgen hatte das Verteidigungsministerium in Moskau mitgeteilt, russische Truppen hätten die »vollständige Kontrolle« über Isjum erlangt. Die strategisch wichtige Stadt wurde seit Tagen belagert. Sie liegt etwa auf halber Strecke zwischen der Separatistenhochburg Donezk und Charkiw und zählte vor dem Krieg rund 48.000 Einwohner.

Augenzeugin: Hunderte Leichen in Mariupol

Flüchtlinge aus der schwer umkämpften ostukrainischen Hafenstadt Mariupol berichten von dramatischen Zuständen. »Hunderte Leichen lagen auf der Straße«, schrieb eine Frau namens Olena aus der Stadt am Asowschen Meer der Deutschen Presse-Agentur über einen Messengerdienst. Wegen der vielen Todesopfer sei in einem Stadtteil eine Grube ausgehoben worden. In dem Massengrab seien sowohl Zivilisten als auch Militärs beigesetzt worden sein, berichtete Olena. »Die Stadt Mariupol gibt es nicht mehr.« An ihrem Haus sei eine Garage von einer Rakete getroffen worden. »Ich habe kein Haus mehr.«

Sie habe insgesamt 20 Tage in einem Keller Schutz vor den Angriffen gesucht - ohne Trinkwasser. In dieser Zeit habe sie nur dank Regenwasser, geschmolzenem Schnee und Heizungswasser überlebt, schrieb Olena. Vor wenigen Tagen sei ihr mithilfe eines Nachbarn die Flucht in das nahegelegene Dorf Wolodarske gelungen. Sie habe jeden Tag Tagebuch in Mariupol geführt, »um nicht verrückt zu werden«.

Russland und Ukraine tauschen Gefangene aus

Die Ukraine und Russland haben Gefangene ausgetauscht. »Heute vor einigen Minuten haben wir unsere Seeleute ausgetauscht«, sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk im ukrainischen Einheitsfernsehen. Es handele sich um 19 zivile Seeleute, die vor der Schlangeninsel im Schwarzen Meer von Russland gefangen genommen wurden, sowie 10 ukrainische Soldaten. Im Gegenzug seien zehn russische Soldaten und elf zivile Gefangene übergeben worden, sagte Wereschtschuk. Die Menschenrechtsbeauftragte der russischen Regierung, Tatjana Moskalkowa, bestätigte den Austausch von jeweils zehn Soldaten.

Kiew zufolge ist es der erste vollwertige Gefangenaustausch seit dem Beginn des russischen Angriffs. Bei den freigelassenen ukrainischen Soldaten handelte es sich nicht um jene, die zu Kriegsbeginn nach einem russischen Angriff auf die Schlangeninsel zunächst tot geglaubt wurden. Diese Männer sind seitdem in russischer Gefangenschaft.

© dpa-infocom, dpa:220324-99-647959/25