Logo
Aktuell Inland

Kretschmann geht auf Opfer des Radikalenerlasses zu

Der Radikalenerlass sollte einst eine Unterwanderung des Staates verhindern - er zerstörte jedoch viele Karrieren. Betroffene fordern Rehabilitation. Winfried Kretschmann entschuldigt sich bei den Opfern.

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) ist selbst einst fast über den Radikalenerlass gestolpert. Foto: Marijan Murat
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) ist selbst einst fast über den Radikalenerlass gestolpert.
Foto: Marijan Murat

Rund 50 Jahre nach dem Beschluss des Radikalenerlasses hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei den zu Unrecht Betroffenen entschuldigt.

»Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt, das war falsch. Einzelne mögen dann zu Recht sanktioniert worden sein, manche aber eben auch nicht«, schreibt der Grünen-Politiker in einem Brief, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, an die Betroffenen. »Sie haben zu Unrecht durch Gesinnungs-Anhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt. Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.« Bislang habe sich kein Regierungschef eines Landes in der Form geäußert, hieß es aus dem Staatsministerium.

Mit dem Radikalenerlass aus dem Jahr 1972 sollte eine Unterwanderung des Staates verhindert werden. Die Gefahr von Links beunruhigte die damals noch junge Bundesrepublik. Der Beschluss des ersten sozialdemokratischen Kanzlers Willy Brandt und der Ministerpräsidenten der Länder sah unter anderem vor, dass vor jeder Einstellung in den öffentlichen Dienst eine Anfrage beim Verfassungsschutz gestellt werden muss. So sollte der Staatsapparat vor möglichen Verfassungsfeinden geschützt werden.

Menschen wurde die Lebensperspektive genommen

Der Bund und die sozialdemokratisch regierten Länder rückten bereits 1979 wieder von dem Beschluss ab. Bayern schaffte ihn als letztes Bundesland im Jahr 1991 ab. Wie viele Menschen betroffen waren, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Die Schätzungen reichen nach Angaben der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte von 1,8 bis 3,5 Millionen Verfassungsschutz-Anfragen. Bundesweit seien etwa 1000 bis 2000 Menschen nicht eingestellt worden. Damit sei vielen Menschen die Berufs- und Lebensperspektive genommen worden.

Kretschmann schreibt in dem Brief, der Radikalenerlass habe viel mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet. »Ein großer Teil der damals jungen Generation kam ohne besonderen Anlass in den Generalverdacht, nicht verfassungstreu zu sein«, betont er.

»Für diejenigen, die auf dem Rechtsweg nachteilige Entscheidungen revidieren konnten, waren es belastende und zermürbende Kämpfe«, bilanziert der Ministerpräsident. »Andere, die diese Kämpfe nicht führen konnten oder wollten, tragen seither die beruflichen und biografischen Folgen des mangelnden Augenmaßes und dazu damit einhergehende Kränkungen.«

Kretschmann selbst fast über Erlass gestolpert

Der 74-Jährige wäre damals auf dem Weg in den Lehrerberuf selbst fast über den Erlass gestolpert. Kretschmann bezieht sich in dem Brief auf seine linksradikale Studienzeit, die er als »größte Verirrung« seines Lebens bezeichnet. »Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbildung hatte wie ich, einen solchen «Tunnelblick» entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann.«

Kretschmann bot den Betroffenen dem Staatsministerium zufolge nun ein Gespräch an. Eine Rehabilitierung und Entschädigung sei jedoch nicht vorgesehen, weil eine Einzelfallprüfung kaum umzusetzen sei und weil Akten teils gar nicht mehr vorlägen, hieß es.

© dpa-infocom, dpa:230119-99-272781/2