Die Ukraine drängt Deutschland immer stärker zur Lieferung von Kampfpanzern für die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete. Außenminister Dmytro Kuleba betonte am Samstag nach einem Treffen mit seiner Amtskollegin Annalena Baerbock (Grüne) in Kiew, dass die Leopard-2-Panzer dringend benötigt würden, um die gegnerischen Linien zu durchbrechen. »Jeden Tag, an dem in Berlin jemand darüber nachdenkt oder darüber berät, ob man Panzer liefern kann oder nicht (...), stirbt jemand in der Ukraine, weil der Panzer noch nicht eingetroffen ist«, sagte er.
Baerbock reagierte zurückhaltend auf die Forderung, sagte aber eine Prüfung zu. »So wie sich die Lage vor Ort verändert, so schauen wir auch immer wieder unsere Unterstützung an und werden weitere Schritte gemeinsam mit unseren Partnern besprechen«, sagte sie und fügte hinzu: »Ich weiß, dass die Zeit drängt.« Neue Zusagen in Sachen Waffenlieferungen machte die Grünen-Politikerin bei ihrem zwölfstündigen Überraschungsbesuch in Kiew zunächst nicht. Sie versprach allerdings, dass Deutschland die Ukraine »so lange wie nötig« auch militärisch unterstützen werde.
Zunehmender Druck kommt inzwischen auch aus den Koalitionsparteien in Berlin. SPD-Chef Lars Klingbeil forderte angesichts der Erfolge der ukrainischen Streitkräfte schnelle Entscheidungen über weitere Unterstützungsschritte. »Natürlich müssen wir im westlichen Bündnis auch bewerten: Muss es jetzt weitere Waffenlieferungen geben?«, sagte er der ARD. Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann plädierte klar für die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern in die Ukraine. Es sei nun nicht die Zeit des »Zögerns und Zauderns«. Die Grünen-Verteidigungsexpertin Agniezka Brugger sagte der Funke-Mediengruppe: »Alle Optionen müssen noch einmal ohne Denkverbote auf den Prüfstand.«
Baerbock sagt Hilfe beim Minenräumen zu
Baerbock besuchte Kiew als erstes Mitglied der Bundesregierung bereits zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn. Sie reiste in der Nacht zu Samstag mit einem Sonderzug und einer kleinen Delegation von Polen aus nach Kiew. Nach ihrer Ankunft besuchte die Ministerin ein Minenfeld in Welyka Dymerka vor den Toren der Hauptstadt und sagte der Ukraine dort weitere Unterstützung bei der Beseitigung von Kampfmitteln zu. Dies sei neben der Lieferung von Waffen wichtig, um das Leben der Menschen in den zeitweise von der russischen Armee eingenommenen Gebieten sicherer zu machen.
Kuleba: »Waffen, Waffen, Waffen«
Dass die ukrainische Regierung derzeit andere Prioritäten setzt, machte Kuleba am Abend auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Baerbock sehr deutlich: »Waffen, Waffen, Waffen« sei die Forderung seiner Regierung seit dem Frühjahr, sagte er. Die Frequenz der Lieferungen werde nun immer entscheidender. »Jeden Tag müssen in der Ukraine neue Waffensysteme mit Munition eintreffen. Das ist die Voraussetzung für den Sieg«, sagte er. Er hoffe auf die Unterstützung Deutschlands in dieser Frage. »Der Sieg der Ukraine ist das Ende des Krieges und das bedeutet eine Lösung einer Vielzahl von Problemen Europas.«
Die Ukraine fordert die deutschen Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 schon seit längerer Zeit. Mit der auf Hochtouren laufenden Gegenoffensive und der Rückeroberung großer Gebiete im Nordosten des Landes hat sie nun aber ein militärisches Argument, an dem die westlichen Partner nur noch schwer vorbeikommen. »Panzer sind Angriffswaffen, die die Verteidigung des Gegners durchbrechen. Und mit deutschen Panzern würden wir noch mehr Territorien befreien«, betonte Kuleba.
Scholz wartet auf die USA - Widerstand von Lambrecht
Deutschland liefert zwar Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard, Mehrfachraketenwerfer und Panzerhaubitzen 2000, also schwere Artilleriegeschütze mit einer Reichweite bis zu 40 Kilometer. Zur Bereitstellung von Kampfpanzern konnte Berlin sich bisher aber nicht durchringen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) beantwortet Fragen danach immer wieder mit dem Satz: Deutschland mache keine Alleingänge. Auch kein anderer Nato-Staat schicke Kampfpanzer in die Ukraine. Man orientiere sich da vor allem an den USA.
Von den für die Ukraine-Hilfe zuständigen Kabinettsmitgliedern lässt Baerbock noch am ehesten Sympathien für die Lieferung von Kampfpanzern durchblicken. Anders sieht das mit Verteidigungsministerin Christine Lambrecht aus. Kuleba machte auf der Pressekonferenz mit Baerbock deutlich, dass er bei der SPD-Politikerin den größten Widerstand sieht. Bei seinem Besuch in Berlin im Mai habe er mit ihr »das offenste, härteste und direkteste Gespräch« gehabt. Er sei Diplomat und wolle das deswegen nicht weiter kommentieren.
Klitschko: »Liefert, was ihr könnt«
Der Druck aus der Ukraine auf die Bundesregierung kommt inzwischen von allen Seiten. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal machte die Kampfpanzer vor einer Woche zu einem Top-Thema seines Treffens mit Scholz im Kanzleramt. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko meldete sich am Wochenende über die »Bild«-Zeitung mit der Forderung nach Leopard-2-Panzern zu Wort: »Meine Bitte an die deutsche Regierung ist: Liefert, was ihr könnt, um die russischen Soldaten aus unserem Land schnell zu vertreiben.« Nächste Woche ist der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk in Berlin. Auch bei seinem Besuch dürfte die Forderung nach Panzern ganz oben auf der Prioritätenliste stehen.
Kuleba zeigte sich am Samstag zuversichtlich, dass die Forderungen letztlich Erfolg haben werden. »Ich bin überzeugt davon, dass im Endeffekt auch deutsche Panzer in die Ukraine geliefert werden«, sagte er. »Nur braucht die deutsche Regierung (...) Zeit um eine Entwicklung zu durchlaufen, bis eine solche Entscheidung getroffen wird.«
© dpa-infocom, dpa:220911-99-711808/8