Auch Stunden nach dem mutmaßlichen Absturz eines Helikopters mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi und Außenminister Hussein Amirabdollahian an Bord gibt es immer noch kein Lebenszeichen von ihnen. Laut Staatsmedien waren in der Nacht 65 Rettungsteams in der Provinz Ost-Aserbaidschan im Nordwesten des Landes im Einsatz, wo der Hubschrauber zuletzt geortet worden war.
Strömender Regen und Wind erschwerten die Suche in der bergigen Region. An Bord des Hubschraubers waren neun Menschen, darunter auch der Gouverneur der Provinzhauptstadt Tabris. Die iranische Regierung hielt sich mit offiziellen Angaben zurück und warnte davor, unbestätigte Informationen zu verbreiten.
Raisi war am Nachmittag zusammen mit Außenminister Amirabdollahian auf der Rückreise von einem Treffen mit dem Präsidenten des Aserbaidschan, Ilham Aliyev, als ihre Maschine vom Radar verschwand. Gemeinsam hatten sie im Nachbarland einen Staudamm eingeweiht. Mit insgesamt drei Hubschraubern machte sich der Tross danach auf den Rückweg gen Iran, doch die Präsidentenmaschine kam nicht an ihrem Bestimmungsort an.
Iran droht innen- und außenpolitische Krise
Wie iranische Medien berichteten, liegt der Unglücksort in der Nähe von Dscholfa - mehr als 600 Kilometer von der Hauptstadt Teheran entfernt, nahe der Grenze zu Aserbaidschan. Neben den Rettungsteams waren auch die iranischen Streitkräfte an der Suche beteiligt. Mehrere Länder boten ihre Hilfe bei dem Rettungseinsatz an, auch eine türkische Drohne flog zur Unterstützung der Suchaktion in den iranischen Luftraum.
Irans Kabinett kam unterdessen zu einer Notsitzung zusammen. Der erste Vizepräsident, Mohammed Mochber, leitete die Sitzung am späten Abend. Er würde Raisi im Todesfall gemäß Protokoll als Regierungschef ablösen. Laut der Verfassung müssen dann innerhalb von 50 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Sollten Raisi und Amirabdollahian bei dem Unglück ums Leben gekommen sein, dürfte die Islamische Republik in eine innen- und außenpolitische Krise stürzen. Insbesondere Amirabdollahian war als Außenminister seit Beginn des Gaza-Kriegs verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt und hatte zahlreiche Reisen zu Verbündeten unternommen. Mangels Alternativen dürfte sich die Suche nach einem Nachfolger für Raisi schwierig gestalten.
Regierung wegen repressiver Politik in der Kritik
In Raisis Heimatstadt Maschhad im Nordosten des Landes versammelten sich zahlreiche Gläubige im zentralen Pilgerschrein, wie der staatliche Rundfunk berichtete. Auch in anderen Landesteilen wie der religiösen Hochburg Ghom strömten Anhänger in die Moscheen. Die Sorge war groß, dass der 63-Jährige und auch Außenminister Amirabdollahian etwas zugestoßen sein könnte.
In den sozialen Medien gab es aber auch viele Iranerinnen und Iraner, die Schadenfreude über den mutmaßlichen Absturz der beiden Politiker zum Ausdruck brachten. Raisis Regierung steht seit Jahren wegen ihrer erzkonservativen Wertevorstellungen, der Unterdrückung von Bürgerrechten und der schweren Wirtschaftskrise im Iran in der Kritik.
Spekuliert wurde, ob der Hubschrauber wegen eines technischen Defekts abgestürzt sein könnte. Irans Luftwaffe gilt als stark veraltet, ihre Modernisierung kommt angesichts scharfer internationaler Sanktionen kaum voran, Ersatzteile sind schwer zu beschaffen. Viele Flugzeuge und Helikopter stammen noch aus der Zeit vor der Islamischen Revolution von 1979, als das Land enge Beziehungen zu den USA unterhielt. Immer wieder kommt es zu folgenschweren Unfällen und Abstürzen.
Religionsführer Chamenei ruft zu Gebeten für Raisi auf
Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei rief die Nation dazu auf, für den Präsidenten zu beten. Er hoffe auf Raisis Rückkehr, zitierte ihn die staatliche Nachrichtenagentur Irna. Gleichzeitig versicherte das Staatsoberhaupt, dass der Vorfall die Regierungsgeschäfte nicht beeinträchtigen werde. »Die iranische Nation sollte sich keine Sorgen machen. Es wird keine Unterbrechung der Aktivitäten des Landes geben«, sagte Chamenei laut Irna.
Gemäß Verfassung ist Raisi zwar Regierungschef, er gilt jedoch als eher schwacher Präsident - zumal Chamenei als Staatsoberhaupt ohnehin die mächtigere Stellung und in allen strategischen Belangen das letzte Wort hat. Raisi wurde im August 2021 als neuer Präsident vereidigt. Der erzkonservative Kleriker wurde damit offiziell Nachfolger von Hassan Ruhani, der nach zwei Amtsperioden nicht mehr antreten durfte. Als Spitzenkandidat der politischen Hardliner sowie Wunschkandidat und Protegé des Religionsführers Chamenei hatte Raisi die Präsidentenwahl mit knapp 62 Prozent der Stimmen gewonnen.
Der Iran stand zuletzt verstärkt in den Schlagzeilen, auch weil ein regionaler Krieg mit dem Erzfeind Israel zu drohen schien. Während Raisis Amtszeit vertiefte die Islamische Republik ihre wirtschaftliche und militärische Kooperation mit China und Russland, die Beziehung zum Westen kühlte unter anderem wegen des Streits über das iranische Atomprogramm ab. Außerdem warf der Westen der Führung in Teheran schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen vor. Trotzdem gab es erst vor wenigen Tagen wieder Berichte über neue, indirekte Gespräche mit den USA im Golfstaat Oman.
Religiöser Hardliner: Raisi als Mann des Systems
Raisi wurde 1960 in Maschhad geboren und war über drei Jahrzehnte in der Justizbehörde tätig. 2019 wurde er zum Justizchef ernannt. In seiner früheren Funktion als Staatsanwalt soll er im Jahr 1988 für zahlreiche Verhaftungen und Hinrichtungen politischer Dissidenten verantwortlich gewesen sein, weshalb seine Gegner ihm den Beinamen »Schlächter von Teheran« verpassten.
Experten hatten Raisi zwischenzeitlich auch als möglichen Nachfolger für Chamenei gehandelt, der im April 85 Jahre alt wurde. Auch wenn sich die Kritik der jungen Generation inzwischen immer mehr gegen das gesamte System der Islamischen Republik richtet, stand Raisi innenpolitisch besonders unter Druck. Zuletzt trieb die Regierung ihren umstrittenen Kurs bei der Verfolgung des Kopftuchzwangs voran und brachte damit Teile der Bevölkerung noch mehr gegen sich auf.
Raisis Tod dürfte Machtkampf auslösen
Sollte das Präsidentenamt neu besetzt werden müssen, dürfte in Teheran ein heftiger Machtkampf ausbrechen, schrieb der Iran-Experte Arash Azizi in einer Analyse für die US-Zeitschrift »The Atlantic«. Raisis Passivität habe Herausforderer unter den Hardlinern ermutigt. Sie würden seine schwache Präsidentschaft als Chance sehen, schrieb Azizi. »Der Tod von Raisi würde das Machtgleichgewicht zwischen den Fraktionen innerhalb der Islamischen Republik verändern.«
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