Viel präsentieren konnte Kremlchef Wladimir Putin den Russen in seiner Rede zur Lage der Nation nicht. Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion ist Moskau von seinen ambitionierten Kriegszielen weit entfernt: Prahlte die Chefin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, kurz vor dem Einmarsch noch damit, die Hauptstadt Kiew innerhalb von zwei Tagen einzunehmen, mühen sich russische Truppen nun seit einem halben Jahr um die Eroberung der ostukrainischen Industriestadt Bachmut.
Bachmut ist in den vergangenen Monaten zum Symbol für die Brutalität und Sinnlosigkeit des russischen Angriffskriegs geworden. Das einst schmucke Städtchen, das vor dem Krieg 70.000 Einwohner hatte, ist inzwischen völlig zerstört. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf der russischen Armee vor, Bachmut in »eine verbrannte Ruine verwandelt« zu haben. Sein Berater Mychajlo Podoljak bezeichnete den Ort als »Hölle auf Erden«.
Täglich sterben in dem Inferno auf beiden Seiten Hunderte Soldaten, wobei es sich auf russischer Seite zumeist um Söldner der Wagner-Einheit handelt. Deren größter Erfolg war die Einnahme der nördlich von Bachmut gelegenen Kleinstadt Soledar im Januar nach der Verschärfung der Offensive. Zum Zusammenbruch der Front hat dies nicht geführt.
Bachmut hat auch eine rein taktische Bedeutung
Bei einem Verlust von Bachmut und wichtiger Straßenverbindungen müssten die ukrainischen Truppen wohl Gelände in einer Tiefe von bis zu 30 Kilometern aufgeben, sagt der deutsche Brigadegeneral Christian Freuding. Deswegen habe Bachmut auch eine rein taktische Bedeutung, sagt der Offizier, der den Sonderstab Ukraine im deutschen Verteidigungsministerium leitet und den Minister Boris Pistorius jüngst auf der Reise nach Kiew begleitete.
Freuding koordiniert die deutsche Waffenhilfe für die Ukraine. Er sieht den Verteidigungskampf nun in einer schwierigen Phase. »Wir wissen auch, dass die Ukrainer nicht mehr in der Lage sind, ihre Verbände nur mit Freiwilligen aufzufrischen, sondern dass sie jetzt ganz gezielt Reservisten in unterschiedlichen Graduierungen einziehen. Das deutet darauf hin, dass sie derzeit unter Druck sind«, sagte Freuding der Deutschen Presse-Agentur.
Kampf als David gegen Goliath
Die Verstärkung mit westlichen Kampfpanzern und Schützenpanzern versetze die Ukrainer in die Lage, örtlich begrenzt Überlegenheit zu schaffen. Freuding: »Sie werden dann sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff Erfolge erzielen können.« Die Ukrainer hätten bewiesen, dass sie taktisch sehr geschickt vorgehen können.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) beschrieb der über Video zugeschaltete Präsident Selenskyj den Kampf als David gegen Goliath. Der Kleinere nutzt geschickt und zielgenau die Steinschleuder gegen den halbblinden Riesen - und siegt. Es ist auch die Aufforderung, weiter mehr und modernere Waffen aus dem Westen zu schicken.
Auf etwa 200 westliche Schützenpanzer und Kampfpanzer kann die Ukraine wohl in einer ersten Phase hoffen. Die Ausbildungen laufen gerade in mehreren Staaten, auch in Deutschland. Die Waffen befähigen die Ukraine dann zu gezielten Vorstößen gegen russische Ziele. Das könnte auch die von Russland eroberte Landbrücke zur annektierten Halbinsel Krim sein.
»Ein westlicher Panzer besitzt den Wert von vier russischen Panzern. Das heißt, wenn ich eine Kompanie aus 14 deutschen Leopard 2A6 habe und damit auf ein russisches Panzerbataillon treffe, geht das mit 33 zerstörten russischen Panzern und einem beschädigten Leopard aus. Man konnte dies in beiden Golfkriegen beobachten«, sagte der Militärexperte Thomas C. Theiner der »Welt«. Und: »Die russischen Panzer des Irak haben nicht einen amerikanischen Abrams zerstört. Russische Panzer sind gut gegen russische Panzer, gegen Häuser und Zivilisten, die auf der Straße demonstrieren.«
Wagner-Truppen beklagen zunehmend Munitionsmangel
Mit Interesse wird zu verfolgen sein, wie sich das auf das russische Vorgehen und das Verhältnis der russischen Akteure zueinander auswirken. Schon jetzt beklagen die angreifenden Wagner-Truppen um Bachmut zunehmend Munitionsmangel. Der kremlnahe Oligarch und Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin warf dem russischen Verteidigungsministerium eine »Munitionsblockade« vor.
Die Äußerung verdeutlicht einmal mehr die anhaltenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen Söldnertruppen und regulären Einheiten, die mehr und mehr zur Belastung für die russische Kampagne werden. Zumal sich Prigoschin auch darüber beschwert, von der Rekrutierung Gefangener ausgeschlossen zu werden. Unterschiedlichen Angaben nach sind bereits 30.000 bis 40.000 der insgesamt wohl 50.000 russischen Häftlinge in den Wagner-Einheiten ausgefallen.
Soldaten als Kanonenfutter
Die Verluste sind auch deshalb so hoch, weil die Gefangenen oft zur Aufdeckung ukrainischer Positionen als Kanonenfutter verwendet werden. Insgesamt werden die russischen Verluste durch Gefallene und Verwundete an der russischen Front inzwischen auf rund 200.000 Soldaten geschätzt. Somit hat Russland trotz der von Putin im Herbst ausgerufenen Teilmobilmachung mit 300.000 Reservisten nach Ansicht vieler Militärexperten derzeit nicht die Stärke, um weitere größere Offensivaktionen zu starten.
Dem ukrainischen Militärgeheimdienst zufolge konzentriert Russland nun seine Luftwaffe im grenznahen Gebiet. 450 Flugzeuge und 300 Helikopter seien an Stützpunkten im Westen Russlands aber außerhalb der Reichweite der ukrainischen Himars-Raketenwerfer stationiert, heißt es. Ständig gehen Raketenangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine nieder. Mit mehr Flugabwehrsystemen liefert der Westen gewissermaßen dagegen an.
Es ist allerdings unklar, wie viel Realitätssinn der angeblich in einem Panzerzug fahrende Kremlchef Putin noch besitzt. Verhandlungen bietet er zwar an. Von seinen Maximalforderungen ist er offiziell nicht abgerückt. Das schließt massive Gebietsabtretungen der Ukraine ein, einen blockfreien Status und Entmilitarisierung - das Land wäre praktisch abhängig von Putins Launen und Machtinteressen.
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