Im UN-Sicherheitsrat fällt vor allem auf, wer nicht am runden Tisch der mächtigsten Außenminister der Welt sitzt. Vor dem riesigen »Wandbild des Friedens« haben sich in dem Saal am Donnerstag unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres und die Chefdiplomatinnen und Chefdiplomaten der USA, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Chinas versammelt.
Auch der Ukrainer Dmytro Kuleba ist da - es geht ja um Russlands Angriffskrieg gegen sein Land. Einer jedoch fehlt: Russlands Außenminister Sergej Lawrow.
Eskalation statt Dialog
Es ist 11:29 Uhr Ortszeit, als der Russe dann doch mit knapp 90 Minuten Verspätung durch die Holztüren des Saals tritt und auf seinem blauen Stuhl Platz nimmt - das erste Mal seit Kriegsbeginn. Drei Minuten später ergreift Lawrow das Wort. Mit ernster Miene hören Außenministerinnen und Außenminister zu, wie der 72-Jährige den Konflikt verteidigt - und weiter eskalieren lässt.
»Diese Politik, Russland zu zermürben und zu schwächen, bedeutet die direkte Einmischung des Westens in den Konflikt und macht ihn zu einer Konfliktpartei«, schimpft Lawrow angesichts der Waffenlieferungen und der Unterstützung für die Ukraine. Verbrechen der Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj würden vom Westen vertuscht nach dem Motto »Selenskyj mag ein Bastard sein, aber er ist unser Bastard«, zürnte er.
Nur einen Tag vorher hatte Lawrows Boss einmal mehr die weltweiten Nachrichten bestimmt. Präsident Wladimir Putin verkündete seinem Volk die Teilmobilmachung der Streitkräfte. Bundeskanzler Olaf Scholz wertete dies angesichts der Gebietsverluste der russischen Armee in der Ukraine als »Akt der Verzweiflung«. Und eine kaum verhohlene Drohung Putins mit Atomwaffen machte klar, dass echter Dialog nicht warten kann.
Stellungnahmen anderer Länder: Unerwünscht
Doch Lawrow macht vor den Vereinten Nationen an diesem regnerischen Donnerstagmorgen in New York allzu deutlich, dass Russland dazu momentan nicht bereit ist. Als er schließlich sein Mikrofon ausschaltet, schaut er auf seine Uhr, steht auf und verlässt um 11:52 Uhr den Saal - ohne der Stellungnahme auch nur eines anderen Landes zuzuhören.
23 Minuten ist Lawrow im UN-Sicherheitsrat - das Gremium erlebt an diesem Tag einen seiner Tiefpunkte.
»Er hat die Kammer verlassen. Ich bin nicht überrascht«, kritisiert der britische Außenminister James Cleverly. Lawrow wolle die kollektive Verurteilung durch den Sicherheitsrat nicht hören. US-Außenminister Antony Blinken sagt, dass die jüngsten Eskalationen ausgerechnet während der Generaldebatte der UN-Vollversammlung die »völlige Verachtung« Moskaus für UN und Diplomatie zeigten. Gleichzeitig betont er, Kiew bleibe keine Alternative zum Kampf: »Wenn Russland aufhört zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, ist die Ukraine am Ende.«
Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock fordert Russland zu einem Ende der Kämpfe auf. »Dies ist ein Krieg, den Sie nicht gewinnen werden«, sagt die Grünen-Politikerin, ohne Putin beim Namen zu nennen. Zugleich verlangt sie eindringlich: »Hören Sie auf, noch mehr ihrer eigenen Bürger in den Tod zu schicken.«
Selenskyj will Gerechtigkeit
Am Vorabend hatte Selenskyj für seine Videoansprache vor der UN-Vollversammlung mit ihren 193 Mitgliedern langanhaltenden Applaus erhalten. Die meisten Anwesenden erhoben sich, die Russen blieben sitzen. Einmal mehr in einem olivgrünen Militärshirt bekleidet, strahlte Selenskyj das Selbstbewusstsein eines Präsidenten im Krieg aus, dessen Truppen auf dem Schlachtfeld vorrücken. Sein Gesicht mochte von Furchen der Erschöpfung durchzogen sein, doch die Abrechnung mit Putin war energisch: »Russland wird gezwungen sein, diesen Krieg zu beenden.« Und das Nachbarland müsse für seine Verbrechen bestraft werden, forderte er.
Nicht ein einziges Mal nannte der 44-jährige Ukrainer Putin beim Namen. Doch Selenskyj ließ keinen Zweifel daran, wen er meinte. Es gebe nur einen, »der jetzt sagen würde, wenn er meine Rede unterbrechen könnte, dass er mit diesem Krieg zufrieden ist«. Mit Blick auf Russland schob er hinterher: »Aber wir werden von diesem Gebilde nicht über uns bestimmen lassen, obwohl es der größte Staat der Welt ist.« Doch auch für jene kriegsmüden Länder, deren Rückhalt etwas bröckelt, hatte Selenskyj eine Botschaft: Neutralität gebe es in diesem Krieg nicht, höchstens Gleichgültigkeit.
Es müsse Gerechtigkeit geben, verlangte Selenskyj weiter. »Es wurde ein Verbrechen gegen die Ukraine begangen, und wir fordern eine Bestrafung.« Wohl in Anspielung auf den weltberühmten Roman von Fjodor Dostojewski sagte er: Russland sei schließlich gut vertraut mit dem Prinzip von »Schuld und Sühne«.
Als Selenskyjs Außenminister Kuleba dann im Sicherheitsrat spricht, ist Lawrow längst gegangen. Kuleba betont den Willen seines Landes zum Ende des Konflikts. »Wir wollen einfach ein normales Leben führen.« Aber es reiche nicht, dass die Ukraine Frieden wolle. Russland müsse der Diplomatie eine Chance geben. Doch das scheint an diesem Tag unmöglich: »Ich habe heute auch bemerkt, dass russische Diplomaten genau so fliehen wie russische Soldaten.«
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