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Israel: Kämpfe »im Herzen von Chan Junis« im Süden Gazas

Ungeachtet internationaler Kritik setzt Israel seine Bodenoffensive fort. Die Truppen kämpfen nun auch im Süden Gazas. Hilfsorganisation sprechen von dramatischen Zuständen. Der Überblick.

Nahostkonflikt - Chan Junis
Im Raum Chan Junis soll es intensive Angriffe der israelischen Streitkräfte geben. Foto: Mohammed Talatene/DPA
Im Raum Chan Junis soll es intensive Angriffe der israelischen Streitkräfte geben.
Foto: Mohammed Talatene/DPA

Angesichts heftiger Kämpfe im gesamten Gazastreifen hat Israels Militär vom »intensivsten Tag seit Beginn der Bodenoffensive« gesprochen. Die Truppen seien nun auch »im Herzen« von Chan Junis, der größten Stadt im Süden des Gazastreifens, teilte das Militär mit.

»Unsere Kräfte kreisen nun den Raum Chan Junis ein«, sagte Israels Generalstabschef Herzi Halevi. Auch im Norden gebe es heftige Kämpfe. Mit Blick auf die Zahl »der getöteten Terroristen, der Anzahl der Gefechte und des Einsatzes von Feuerkraft an Land und in der Luft« sei dies der bislang intensivste Tag seit Beginn der Offensive im Norden des Küstenstreifens Ende Oktober. Unterdessen hält die internationale Kritik am Vorgehen Israels an.

Die Ausweitung der Angriffe im Süden seit dem Ende der mehrtägigen Feuerpause am Freitag führt nach Angaben der Vereinten Nationen zu immer mehr Todesopfern unter der Zivilbevölkerung. »Die Zahl der getöteten Zivilisten nimmt rapide zu«, schrieb der Generalkommissar des Palästinenserhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, in einer Mitteilung.

Mit der Wiederaufnahme des Militäreinsatzes und der Ausweitung im Süden Gazas »wiederholen sich die Schrecken der vergangenen Wochen«, beklagte Lazzarini. In den Süden des Küstengebiets waren nach Aufforderung der israelischen Armee Hunderttausende schutzsuchende Zivilisten aus dem bereits zuvor heftig umkämpften Norden geflüchtet.

Netanjahu: Hälfte aller Bataillonskommandeure der Hamas getötet

Nach Darstellung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu tötete die Armee im Gaza-Krieg rund die Hälfte aller Bataillonskommandeure der Hamas. Die israelische Armee geht davon aus, dass die Terrororganisation insgesamt 24 dieser militärischen Abteilungen mit jeweils rund 1000 Mitgliedern hat. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

WHO: Alle zehn Minuten wird Kind oder Jugendlicher getötet

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird alle zehn Minuten ein Kind oder ein Jugendlicher in Gaza getötet. »Die Situation verschlechtert sich von Stunde zu Stunde«, berichtete ein WHO-Vertreter aus Rafah an der Grenze des Gazastreifens zu Ägypten. Er sprach über eine Videoverbindung mit Reportern in Genf.

Der Sprecher des UN-Kinderhilfswerks Unicef, James Elder, kritisierte die Aufrufe Israels, die Menschen sollten Stadtviertel verlassen und in sichere Zonen gehen. Es gebe keine sicheren Zonen im Gazastreifen, sagte Elder über Videolink aus Kairo. Solche Zonen müssten Gesundheitseinrichtungen haben, Wasser und Essen, es handele sich aber lediglich um kleine Brachflächen oder manchmal nur um Bürgersteige. »Ich glaube die Behörden wissen dies, und ich finde das herzlos. Es untermauert die Gleichgültigkeit gegenüber Kindern und Frauen, und diese Gleichgültigkeit ist tödlich.«

Ministerium: Bisher mehr als 16.200 Tote

Bei den israelischen Angriffen sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums inzwischen mehr als 16.200 Menschen getötet worden. Am Montag hatte die Behörde noch von fast 15.900 Toten gesprochen. Die Opferzahlen lassen sich gegenwärtig nicht unabhängig überprüfen, die Vereinten Nationen und andere Beobachter weisen aber darauf hin, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten.

Das israelische Bombardement des Gazastreifens zählt nach Ansicht der Norwegischen Flüchtlingshilfe (NRC) zu den »schlimmsten Angriffen auf eine Zivilbevölkerung unserer Zeit«. NRC-Generalsekretär Jan Egeland teilte am Dienstag mit: »Jeden Tag sehen wir mehr tote Kinder und neues Leid für unschuldige Menschen, die diese Hölle ertragen müssen.«

UN: Not der Binnenflüchtlinge in Gaza übersteigt Kapazitäten

Angesichts der heftigen Kämpfe und einer neuen Massenflucht sieht sich das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA nicht mehr im Stande, alle Schutz suchenden Menschen zu versorgen. Israel fordere die Menschen in Chan Junis, der größten Stadt im Süden, auf, »nach Rafah zu ziehen, um Hilfe zu erhalten - aber wir sind nicht in der Lage, Hunderttausende Binnenflüchtlinge zu versorgen«, schrieb der UNRWA-Direktor für Gaza, Thomas White, auf der Plattform X, vormals Twitter.

White schrieb, seine Organisation werde am Dienstag ihre letzten 300 Zelte verteilen. »Tausende leben ohne Obdach im Freien.« Es werde noch mehr Tote geben, warnte er.

Bericht: Israel verfügt über Pumpen zur Flutung

Israel trifft einem Bericht des »Wall Street Journals« zufolge möglicherweise Vorbereitungen zur Flutung der Tunnel der islamistischen Hamas. Mit einem System aus großen Pumpen könnte das ausgedehnte Tunnelnetz unter dem Gazastreifen unter Wasser gesetzt werden.

Wie die Zeitung unter Berufung auf Beamte der US-Regierung berichtete, sei nicht bekannt, ob die israelische Regierung die Taktik der Flutung anwenden wolle. Der israelische Armeesprecher Richard Hecht sagte dazu: »Wir verwenden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um gegen das Tunnelsystem vorzugehen.« Israels Generalstabschef bezeichnet die Überlegung als gute Idee.

Israel hat geheimdienstliche Informationen zu Geiseln

Ein Armeesprecher sagte auf die Frage, ob das Militär nachrichtendienstliche Informationen habe, wo sich die Geiseln befinden könnten: »Ja, haben wir.« Nähere Angaben könne er nicht machen.

Israel geht davon aus, dass noch 138 Geiseln festgehalten werden. Bei dem Terror-Überfall der Hamas wurden rund 240 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Jüngst wurden 105 Geiseln im Austausch gegen 240 palästinensische Gefängnisinsassen freigelassen.

Bei einem Treffen zwischen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Angehörigen von israelischen Hamas-Geiseln kam es Medienberichten zufolge zu harschen Wortgefechten. Wie die israelische Zeitung Haaretz und der TV-Sender N12 berichteten, sagte Netanjahu bei der Begegnung: »Im Moment gibt es keine Möglichkeit, alle zurückzuholen. Kann sich irgendjemand vorstellen, dass wir es ablehnen würden, wenn das eine Option wäre?« Diese Aussage löste bei den Angehörigen Empörung aus.

Raketenalarm in Israel

Indes gab es an der Grenze zum Gazastreifen auf israelischer Seite erneut Raketenalarm, genauso in Tel Aviv und dem Zentrum des Landes. Die israelische Nachrichtenseite ynet berichtete von insgesamt 15 Geschossen, die von dem Küstengebiet aus auf den Großraum Tel Aviv abgefeuert worden seien.

Auslöser des Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen verübt haben. Auf israelischer Seite sind in der Folge mehr als 1200 Menschen getötet worden, darunter mindestens 850 Zivilisten.

Baerbock: Israel muss humanitäres Völkerrecht einhalten

Außenministerin Annalena Baerbock rief Israel angesichts der dramatischen humanitären Lage zur Einhaltung des Völkerrechts auf. »Israel hat das Recht, seine Bevölkerung im Rahmen des Völkerrechts zu schützen. Entscheidend ist aber, wie Israel in dieser neuen Phase vorgeht«, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mit der slowenischen Außenministerin Tanja Fajon in Ljubljana.

»Israel hat die Verantwortung, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, ziviles Leid zu lindern und die zivile Bevölkerung dabei zu schützen«, ergänzte Baerbock. »Denn diesem Konflikt sind schon zu viele Palästinenserinnen und Palästinenser zum Opfer gefallen.«

Emir von Katar wirft Israel in Gaza Völkermord vor

Der Emir von Katar warf Israel mit seinem militärischen Vorgehen im Gazastreifen Völkermord vor. Das Recht auf Selbstverteidigung erlaube keine genozidalen Verbrechen, wie Israel sie begehe, sagte Tamim bin Hamad Al Thani bei seiner Eröffnungsrede zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs des Golf-Kooperationsrats in Doha.

»Es ist eine Schande für die internationale Gemeinschaft, diese abscheulichen Verbrechen fast zwei Monate lang zuzulassen, mit systematischen und absichtlichen Tötungen unschuldiger Zivilisten, einschließlich von Frauen und Kindern«, sagte der Emir. Katar hatte zuletzt zwischen Israel und der Hamas vermittelt. Gleichzeitig beherbergt Katar aber auch führende Hamas-Mitglieder.

Auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg und weitere Mitglieder des schwedischen Ablegers der Klimaschutzgruppe Fridays for Future haben Israel Völkermord im Gazastreifen vorgeworfen. Dass die in Gaza herrschende islamistische Hamas bei »einem schrecklichen Angriff israelische Zivilisten ermordet« habe, könne die »anhaltenden Kriegsverbrechen Israels« nicht legitimieren, schrieben Thunberg und fünf weitere Unterzeichner in einem Meinungsbeitrag, der in den Zeitungen »Aftonbladet« (Schweden) und »Guardian« (Großbritannien) veröffentlicht wurde.

Wieder Gefechte an Israels Grenze zum Libanon

Bei erneutem Beschuss an der Grenze zwischen dem Libanon und Israel gab es nach libanesischen Angaben mehrere Verletzte und einen Toten gegeben. Die libanesische Armee erklärte, dass bei einem israelischen Angriff auf einen Militärstandort im Grenzgebiet mindestens ein Soldat getötet worden sei.

Es ist der erste libanesische Soldat, der in dem aktuellen Konflikt ums Leben gekommen ist. Aus Sicherheitskreisen im Libanon hieß es weiterhin, dass eine Person bei einem Angriff auf ein Wohnhaus verletzt worden sei. Das israelische Militär äußerte sich bisher nicht zu dem Vorfall. Der Beschuss folgte auf eine Reihe von Angriffen der libanesischen Hisbollah auf israelisches Gebiet.

© dpa-infocom, dpa:231205-99-183159/19