Hannah kommt frustriert und traurig aus dem Unterricht nach Hause. Wieder einmal. Die Neunjährige ist zu schnell im Kopf. Sie ist hochbegabt, permanent unterfordert, langweilt sich, verstellt sich zugleich, um nicht als »Klugscheißer« anzuecken bei ihren Mitschülern der vierten Klasse.
»Die Schule ist sehr belastend für Hannah. Viele hochbegabte Kinder kommen schlecht durch die Schule, weil sie nicht gesehen werden, nicht gefördert werden. Es gibt keine Infos, keine Unterstützung, keine Ansprechpartner, kein Verständnis«, meint ihre Mutter Petra. »Das Schulsystem in Deutschland ist nicht für Hochbegabte ausgelegt.« Hannah und ihre Mutter heißen in Wirklichkeit anders, sie möchten irhe Namen nicht in der Öffentlichkeit lesen.
200.000 hochbegabte Kinder
Bei der Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) weiß man: »Das ist ein Riesenthema und definitiv kein Luxusproblem.« Mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche unter den knapp 8,4 Millionen Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen waren 2021/22 als hoch- oder höchstbegabt einzustufen, wie die Vizevorsitzende Sabrina Henning schätzt. »Längst nicht alle Hoch- oder Höchstbegabte sind auch Höchstleister. Ihre intellektuellen Bedürfnisse werden oft nicht wahrgenommen, sie können sich nicht entfalten.« Aus ihrer Beratungsarbeit in Hamburg berichtet die Psychologin: »Wir sehen traurige Schicksale - manche Kinder verweigern Schule, rebellieren, sind unglücklich, körperlich krank, werden apathisch oder landen in der Psychiatrie.«
In der Pandemie sei das Homeschooling dagegen ein Segen gewesen: »Lernen nach eigener Schnelligkeit war für viele wie eine Befreiung.« Laut DGhK spricht man ab einem Intelligenzquotienten von 130 von Hochbegabung und ab 145 von einer Höchstbegabung. Aber auch bei einem 115-er IQ liege eine überdurchschnittlichen Begabung vor, die bereits eine besondere Förderung nötig mache.
Initiative fördert talentierte Kinder
Die Bildungspolitik hat das Thema in den Blick genommen: 2018 starteten Bund und Länder die Initiative »Leistung macht Schule«. Ziel: »Die schulischen Entwicklungsmöglichkeiten talentierter Kinder und Jugendlicher - unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status - im Regelunterricht zu fördern«. In der ersten Phase bis 2022 sind 300 solcher »Lemas«-Schulen im Boot. Schon zuvor hatten die Kultusminister betont: »Begabungsgerechte Förderung ist grundständiger Bestandteil des Bildungs- und Erziehungsauftrages aller Bildungseinrichtungen.« In den Ländern sollten zusätzliche Unterrichtsangebote, vorzeitige Einschulung oder auch ein Überspringen von Klassenstufen ermöglicht werden.
In der Praxis hapert es aber arg, sagt Henning. Und einen Platz an einer geeigneten »Lemas«-Schule zu bekommen, sei schwierig, im ländlichen Raum fast aussichtslos. Anhaltende Unterforderung bedeute Stress. »Viele Kinder fallen durchs System, das darf nicht passieren«, mahnt die Expertin. »Wenn ein Kind immer wieder 20 Mal das A schreiben muss, obwohl es schon Schreiben kann, geht es am Stock.« In Bildung werde zu wenig investiert - zu große Klassen, zu wenig Lehrpersonal, keine Spielräume. »Der Kuchen ist klein - und für Hochbegabte sieht es düster aus.« Ein Problem sei auch Unwissen in Schulämtern und bei den meisten Lehrkräften.
»Hochbegabte Kinder sind gesegnet, können aber untergehen«, schildert Wiebke Lush, die im ostwestfälischen Rietberg ein psychologisches Institut zur Förderung und Begleitung von hoch- und höchstbegabten Familien leitet. »Die Kinder denken und entwickeln sich nicht linear. Hochbegabte sind ihren Altersgenossen oft drei Jahre voraus, Höchstbegabte sogar bis zu sechs Jahre. Sie haben enorm hohe kognitive, aber auch soziale und emotionale Kompetenzen.« Das sei eigentlich ein Schatz, von dem auch das soziale Umfeld profitieren könnte - wenn man ihn richtig hebe.
Begabte fallen oft als Klassenclown oder Störer auf
Lush, die auch ein Buch zur Begabtenförderung geschrieben hat, beklagt: »Es wird immer vom Durchschnitt aus gedacht und bewertet. Den Hochbegabten wird abverlangt, sich in ein festes Raster einfügen.« Es sei nicht einfach für die Kinder, auf diese Weise »gut und gesund« durchs Bildungssystem zu kommen. Aus Hochbegabten würden häufig »Nicht-Leister«, weil bei ihnen keine Motivation aufkomme. »Wenn man schon mit drei Jahren wissen will, wie die Welt entstanden ist, aber nie Antworten bekommt, können Frust, Ärger, Depressionen entstehen.« Klar sei: »Das Erkennen und Begleiten einer Hochbegabung ist eine große Herausforderung.« Es gebe leider viele nichterkannte Hochbegabte, die fehldiagnostiziert seien - etwa mit ADHS.
Vor allem hochbegabte Jungen fallen zudem als Störer oder Klassenclowns auf, wie auch Henning berichtet. Die Kinder hinterfragen viel, auch Regeln und Autoritäten, das sei mitunter unbequem und fordere Lehrkräfte heraus. Sie verlangt mehr Flexibilität: Hochbegabten solle im »Drehtürmodell« erlaubt sein, in besonders leistungsstarken Fächern bei höheren Jahrgängen mitzumachen. Oder sie sollten Klassen überspringen dürfen, ohne große Hürden. »Das klingt trivial, fehlt aber im Alltag weitgehend.« In der DghK würden ihnen Programmieren, Naturforschung, Zeichenkurse oder Gebärdensprache angeboten.
Hannah hat schon viel Zurückweisung erlebt, wie ihre Mutter sagt. Die Familie wohnt ländlich im Ruhrgebiet. »Vom Schulleiter kam nur, man habe für «so was» keine Zeit, müsse sich um die «echten» Probleme kümmern«. Die Mathelehrerin habe geschimpft, weil sie das Arbeitsblatt für eine Woche schon in 15 Minuten fertig hatte. »Genauso wie Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche Förderung brauchen, müssten auch Hochbegabte in den Blick genommen werden.«
Mit Blick auf die weitere Schullaufbahn meint Hannahs Mutter: »Ich befürchte, mein Kind wird in diesem Schulsystem untergehen. Kaum einer hat die Hochbegabten auf dem Schirm, es ist wie ein blinder Fleck.« Ihre Tochter sei durch ihre Begabung oft belastet, reagiere auch mit Krankheit. »Manchmal fragt sie mich: «Mama, warum kann ich nicht langsamer denken. Wenn ich ein bisschen dümmer wäre, hätte ich es leichter».«
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